Sputnik Sweetheart
wir wie zu Hause und konnten zudem ganze Tage damit verbringen, in Kanda durch die Antiquariate zu streifen. Ich war noch niemals einem anderen Menschen begegnet, der ebenso leidenschaftlich und ausschweifend las wie ich, und ich glaube, Sumire ging es genauso.
Seit sie das Studium abgebrochen und ich mein Examen abgelegt hatte, schaute Sumire etwa zwei-, dreimal im Monat bei mir vorbei. Seltener besuchte ich sie in ihrer Wohnung, denn dort war eigentlich für zwei Personen kein Platz. Bei jeder Begegnung sprachen wir über Literatur und tauschten Bücher aus. Oft machte ich auch etwas zum Abendessen für sie. Mir macht es nichts aus zu kochen, aber Sumire gehörte zu den Leuten, die lieber nichts essen, als selbst zu kochen. Zum Dank brachte sie mir immer irgendwelche Sachen mit, die sie bei ihren Jobs ergatterte. Als sie einmal im Lager einer Arzneimittelfirma arbeitete, kriegte ich sechs Dutzend Kondome, die wahrscheinlich noch immer in irgendeiner Schublade herumliegen.
Die Romane (oder Romanfragmente), die Sumire schrieb, waren gar nicht so schrecklich, wie sie selbst glaubte. Sie hatte vielleicht noch nicht genügend Schreibpraxis, weshalb ihre Texte ein bisschen an eine Patchworkdecke erinnerten, die von einem Verein störrischer älterer Damen mit unterschiedlichen Vorlieben und Gebrechen unter verbissenem Schweigen zusammengestoppelt worden war. Diese Eigenwilligkeit in Verbindung mit Sumires zuweilen manisch-depressivem Wesen führte dazu, dass die Dinge manchmal außer Kontrolle gerieten. Ein weiteres Problem bestand darin, dass Sumire entschlossen war, einen klassischen Ideenroman im Stil und Umfang des 19. Jahrhunderts zu schreiben, vollgestopft mit allen erdenklichen psychologischen und schicksalhaften Phänomenen.
Trotz dieser Schwachpunkte hatte das, was sie schrieb, eine eigentümliche Frische und vermittelte den Eindruck, sie wolle aufrichtig beschreiben, was ihr selbst wichtig war. Mir gefiel, dass sie niemanden imitierte und auch nicht nur mit Fingerspitzengefühl irgendetwas Nettes zurechtbastelte. Außerdem wäre es nicht richtig gewesen, die den Texten eigene subtile Kraft zu beschneiden und in eine kleinere, aber feinere Form zu zwängen. Sie hatte ja noch jede Menge Zeit, alles Mögliche auszuprobieren, und brauchte sich nicht unter Druck zu setzen. Wie man so sagt: Gut Ding will Weile haben.
»Mein Kopf ist vollgestopft mit Zeug, über das ich schreiben will. Wie eine olle Scheune«, sagte Sumire. »Bilder, Szenen, Wortfetzen, Leute toben mir im Kopf rum und brüllen mich an, ich soll schreiben. Ich kriege Lust, mit einer großartigen Geschichte anzufangen, die mich an einen ganz neuen Ort versetzt. Aber wenn ich mich dann an den Schreibtisch setze und schreiben will, merke ich, dass etwas Wichtiges fehlt. Es kristallisiert sich nichts heraus, und ich bleibe auf einem Haufen Geröll sitzen. Ich komme einfach nicht vom Fleck.«
Mit gerunzelter Stirn hob Sumire das zweihundertfünfzigste Steinchen auf und schleuderte es in den Teich.
»Vielleicht fehlt mir etwas. Etwas ganz Entscheidendes, das man als Schriftsteller unbedingt haben muss.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Anscheinend wartete sie auf einen meiner Gemeinplätze.
Ich dachte kurz nach. »Im alten China waren die Städte von hohen Mauern mit gewaltigen, prächtigen Toren umgeben«, sagte ich dann. »Diese Tore hatten eine wichtige Funktion – sie dienten nicht nur dazu, Leute hinein- oder hinauszulassen. Man glaubte, in den Toren hausten die Geister der Stadt. Oder sollten zumindest dort hausen. Ebenso wie die Europäer im Mittelalter ihre Kathedrale und den Marktplatz für das Herz ihrer Städte hielten. Diese prachtvollen Tore gibt es auch heute noch in China. Weißt du, wie die alten Chinesen ihre Tore gebaut haben?«
»Keine Ahnung«, sagte Sumire.
»Sie zogen mit Karren zu alten Schlachtfeldern und sammelten die ausgebleichten Knochen ein, die dort verstreut oder vergraben lagen. In einem Land mit einer so langen Geschichte wie China herrscht natürlich kein Mangel an alten Schlachtfeldern. Dann errichteten die Bewohner am Eingang ihrer Stadt ein großes Tor, in das sie die Knochen einmauerten, weil sie hofften, die auf diese Weise geehrten Geister der toten Soldaten würden zum Dank die Stadt bewachen. Das war aber noch nicht alles. Wenn das Tor fertig war, schnitten sie ein paar lebenden Hunden die Kehle durch und besprengten das Tor mit dem noch warmen Blut. Erst durch die Verbindung von frischem
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