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Sputnik Sweetheart

Sputnik Sweetheart

Titel: Sputnik Sweetheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sie ihr Studium abgebrochen hatte, begegnete Sumire ihrem süßen Sputnik.
    Sumire lebte damals mit einem Minimum an Möbeln und einem Maximum an Büchern in einem Einzimmerapartment in Kichijoji. Um die Mittagszeit stand sie auf und pilgerte nachmittags unermüdlich wie ein Bergasket durch den Inokashira-Park. Bei schönem Wetter setzte sie sich auf eine Bank, aß Brot oder las, während sie eine Zigarette nach der anderen rauchte. Wenn es regnete oder zu kalt war, ging sie in ein altmodisches Café, in dem klassische Musik dröhnte, sank auf eines der durchgesessenen Sofas und las mit ernster Miene zu den Klängen von Schubert-Symphonien oder Bach-Kantaten. Abends trank sie ein Bier und aß ein Fertiggericht aus dem Supermarkt.
    Gegen zehn setzte sie sich an den Schreibtisch. Vor sich hatte sie eine Thermoskanne mit heißem Kaffee, einen großen Becher (mit einem Bild von Snafkin, den ich ihr zum Geburtstag geschenkt hatte), ein Päckchen Marlboro und einen gläsernen Aschenbecher aufgebaut. Ein Wortprozessor gehörte natürlich auch zu ihren Utensilien. Jede Taste ein Zeichen, alles parat.
    Es herrschte tiefe Stille. Ihr Kopf war so klar wie der nächtliche Winterhimmel. Der Große Bär und der Polarstern funkelten an ihren angestammten Plätzen. Sumire hatte so viel zu schreiben, so viele Geschichten, die sie erzählen musste. Wenn sie nur das richtige Ventil öffnen könnte, würden die in ihr brodelnden Gedanken und Ideen wie kochende Lava hervorzischen, geistige Gestalt annehmen und allmählich zu einmaligen, originären Werken erstarren. Alle würden angesichts dieses »sensationellen jungen Genies« erstaunt die Augen aufreißen. Die Feuilletons der Zeitungen würden Fotos von ihr bringen, auf denen ein cooles Lächeln ihre Lippen umspielte, und die Redakteure würden ihr in Scharen die Tür einrennen.
    Unglücklicherweise war bisher nichts von alldem eingetroffen. Vielleicht lag es daran, dass Sumire nicht imstande war, einen abgerundeten Text mit einem richtigen Anfang und einem richtigen Ende zu schreiben.
    Dennoch schrieb Sumire unglaublich flüssig und litt keineswegs an einer Schreibblockade. Im Gegenteil, sie hatte Schwierigkeiten, ein Ende zu finden. Sie schrieb, was ihr durch den Kopf ging, und kam dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Ihr Problem war, dass sie zu viel schrieb. Hat man zu viel geschrieben, bräuchte man ja theoretisch nur die überflüssigen Stellen zu streichen, aber so einfach war die Sache nicht. Sumire konnte nicht unterscheiden, was für den Gesamtzusammenhang eines Textes notwendig war und was nicht. Wenn sie am nächsten Tag einen Ausdruck ihrer Arbeit durchlas, erschien ihr entweder jedes Wort unentbehrlich oder aber sie fand alles überflüssig. In ihrer Verzweiflung zerriss sie so manche Manuskriptseite und warf sie weg. In frostigen Winternächten in einem Kaminzimmer hätte die Szene – wie in La Bohème – noch eine gewisse Wärme und Romantik gehabt, aber in Sumires Einzimmerapartment gab es natürlich keinen Kamin. Sie hatte ja nicht mal ein Telefon. Ganz zu schweigen von einem ordentlichen Spiegel.
     
    An Wochenenden stand Sumire oft mit einem Packen neuer Manuskripte unter dem Arm vor meiner Tür. Auch wenn es natürlich nur die glücklichen Überlebenden ihres Massakers waren, kam eine ganz schöne Menge zusammen. Auf der ganzen großen weiten Welt war ich der einzige, dem Sumire ihre Versuche zeigte.
    Da ich an der Uni zwei Jahre über ihr war und auch ein anderes Fach studierte, waren wir nur zufällig ins Gespräch gekommen. An einem Montag im Mai nach den Feiertagen, als ich an der Bushaltestelle in der Nähe des Uni-Haupteingangs wartete und in einem Roman von Paul Nizan las, den ich in einem Antiquariat aufgestöbert hatte, fragte mich ein ziemlich klein geratenes Mädchen gereizt, wie ich dazu käme, heutzutage noch Paul Nizan zu lesen. Ich hatte den Eindruck, sie hätte am liebsten irgendetwas durch die Gegend gekickt, und hatte sich mangels eines geeigneteren Objektes mir zugewandt.
    Sumire und ich waren einander sehr ähnlich. Zu lesen war für uns beide beinahe eine natürliche Körperfunktion, wie das Atmen. Auch ich zog mich in jeder freien Minute allein in eine ruhige Ecke zurück und verschlang Seite um Seite. Ich las alles, was ich in die Finger bekam – japanische Romane, ausländische Romane, neue und alte, Avantgarde-Literatur, Bestseller – solange es nur den geringsten intellektuellen Reiz besaß. Wie Sumire. In der Stadtbücherei waren

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