Sputnik Sweetheart
– solche Sachen kann ich mir nie merken. Wie die Kemmu-Restauration oder den Vertrag von Rapallo – was eben vor Urzeiten passiert ist.«
Einen Augenblick herrschte ein schwereloses Schweigen, in dem die Zeit wie ein Lufthauch vorüberstrich.
»Der Vertrag von Rapallo?« fragte Sumire.
Miu lächelte. Ein wehmütiges, ungekünsteltes Lächeln, wie nach langer Zeit aus einer halb vergessenen Schublade gezogen. Reizend, wie ihre Augen sich dabei verengten. Dann streckte sie die Hand aus und zerzauste mit ihren fünf langen schlanken Fingern Sumires verstrubbeltes Haar noch ein bisschen mehr. Die Geste war so natürlich und spontan, dass Sumire unwillkürlich zurücklächelte.
Seit dieser Zeit nannte Sumire Miu insgeheim ihren »süßen Sputnik«. Sumire liebte dieses Wort, das in ihr das Bild des künstlichen Satelliten heraufbeschwor, der im Dunkel des Weltalls lautlos seine Bahnen zog, und das der Hündin Laika, wie sie mit schwarzen glänzenden Knopfaugen durch das winzige Bullauge spähte. Was es für einen Hund wohl in der grenzenlosen Leere des Weltalls zu sehen gab?
Zugetragen hatte sich die Sputnik-Geschichte in einem vornehmen Hotel in Akasaka auf der Hochzeitsfeier einer von Sumires Cousinen. Keiner Cousine, die sie besonders mochte (eher im Gegenteil). Überdies waren Hochzeiten für Sumire eine wahre Tortur, aber sie hatte sich nicht drücken können. Sie saß mit Miu an einem Tisch. Miu erwähnte es nur beiläufig, aber anscheinend hatte sie Sumires Cousine Klavierunterricht gegeben oder ihr sonst irgendwie beigestanden, als diese sich auf die Aufnahmeprüfung zum Musikstudium vorbereitete. Obwohl es sich also weder um eine lange noch um eine besonders enge Bekanntschaft handelte, hatte Miu sich offenbar verpflichtet gefühlt, an der Hochzeitsfeier teilzunehmen.
In dem Augenblick, als Miu ihr Haar berührte, verliebte sich Sumire – man könnte fast sagen: reflexartig – in sie. Als hätte sie beim Überqueren eines Feldes jäh der Blitz getroffen, kam diese Liebe über sie wie eine künstlerische Offenbarung. Daher fand Sumire es auch nicht seltsam, dass es sich bei dem Objekt ihrer Begierde um eine Frau handelte.
Soweit ich weiß, gab es nie jemanden, den man als Sumires Liebhaber hätte bezeichnen können. In der Schulzeit hatte sie hin und wieder einen Freund gehabt, mit dem sie ins Kino oder zum Schwimmen ging. Dennoch hatte ich nie den Eindruck, dass diese Beziehungen ihr etwas bedeuteten. Den größten Raum in Sumires Gefühlsleben beanspruchte eine Leidenschaft für den Schriftstellerberuf, wie sie sie mit Sicherheit keinem Mann entgegenbrachte. Falls sie in ihrer Schulzeit sexuelle Erfahrungen (oder etwas Ähnliches) gemacht hatte, waren diese gewiss weniger von Verlangen oder Liebe bestimmt gewesen als von literarischer Neugier.
»Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht mal richtig, was Sexualität bedeutet«, sagte Sumire einmal mit todernstem Gesicht zu mir (kurz bevor sie ihr Studium abbrach, glaube ich. Sie hatte fünf Banana-Daiquiri intus und war ziemlich beschwipst.) »Wie es dazu kommt und so. Was hältst du davon?«
»Sexualität hat nichts mit Verstehen zu tun«, erklärte ich altklug. »Sie ist einfach da.«
Sumire musterte mich zuerst, als wäre ich eine von einer seltenen Energie getriebene Maschine, und schaute dann desinteressiert zur Decke. Damit war das Gespräch beendet. Wahrscheinlich hatte sie es als zwecklos erkannt, mit mir über solche Dinge zu diskutieren.
Sumire war in Chigasaki geboren. Ihr Elternhaus lag so nah am Meer, dass der Wind manchmal mit einem trockenen, knirschenden Geräusch den Sand gegen die Fensterscheiben peitschte. Ihr Vater, ein ausgesprochen gut aussehender Mann, dessen wohlgeformte Nase an Gregory Peck in Ich kämpfe um dich erinnerte, hatte eine Zahnarztpraxis in Yokohama. Zu ihrem Bedauern hatte Sumire diese Nase nicht geerbt. Und ihr Bruder auch nicht. Zuweilen fragte sie sich, was mit den Genen passiert war, die diese einmalig schöne Nase hervorgebracht hatten. Falls sie wirklich unwiederbringlich auf dem Grund des Genpools versunken waren, konnte man das durchaus als kulturellen Verlust bezeichnen. Eine so herrliche Nase war das.
Für die von Zahnschmerz geplagten Frauen von Yokohama und Umgebung war Sumires verdammt gut aussehender Vater geradezu ein Mythos. Obwohl er in der Praxis eine Haube und einen großen Mundschutz trug, der nur seine Augen und Ohren freiließ, blieb nicht verborgen, welch ein Adonis er war. Seine
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