Sputnik Sweetheart
Blut und ausgebleichten Knochen erlangten die alten Geister ihre magische Macht. Das war der Gedanke, der sich dahinter verbarg.«
Schweigend wartete Sumire darauf, dass ich weitersprach.
»Beim Schreiben von Romanen ist es nicht viel anders. Auch wenn man einen Haufen alter Knochen sammelt und ein prächtiges Tor baut, heißt das noch lange nicht, dass daraus ein lebendiger Roman entsteht. Eine richtige Geschichte hat einen geisterhaften Zauber und ist nicht von dieser Welt. Damit die Verbindung von Diesseits und Jenseits entsteht, ist so etwas wie eine magische Taufe nötig.«
»Das heißt, ich muss losziehen und irgendwo einen lebendigen Hund finden?«
Ich nickte.
»Und dann sein warmes Blut vergießen?«
»Vielleicht.«
Nachdenklich kaute Sumire an ihren Lippen und schmiss einen weiteren wehrlosen Stein in den Teich. »Wenn’s geht, möchte ich kein Tier töten.«
»Das war doch nur eine Metapher«, sagte ich. »Du sollst nicht wirklich einen Hund umbringen.«
Wie immer saßen wir nebeneinander auf einer Bank im Inokashira-Park. Auf Sumires Lieblingsbank. Vor uns lag der Teich. Es war windstill, und die Blätter, die auf die Wasseroberfläche gefallen waren, schienen darauf zu kleben. Ganz in der Nähe hatte jemand ein Feuer entfacht. Ein spätherbstlicher Duft lag in der Luft, und selbst weit entfernte Geräusche tönten unangenehm schrill zu uns herüber.
»Was du brauchst, sind Zeit und Erfahrung. Finde ich.«
»Zeit und Erfahrung«, wiederholte Sumire und schaute in den Himmel. »Die Zeit vergeht von allein. Und Erfahrung? Sprich mir nicht von Erfahrung. Nicht dass ich mir etwas darauf einbilde, aber ich verspüre kein Verlangen nach Sexualität. Wie soll eine Schriftstellerin ohne Libido Erfahrungen machen? Ich komme mir vor wie ein Koch ohne Appetit.«
»Wohin sich deine Libido verkrochen hat, weiß ich nicht«, sagte ich. »Vielleicht hat sie sich nur in irgendeiner Ecke versteckt. Oder sie ist auf eine weite Reise gegangen und hat vergessen zurückzukommen. Aber sich zu verlieben, ist ja auch eine ganz schön unvernünftige Angelegenheit. Ganz plötzlich aus heiterem Himmel kann es dich packen. Schon morgen.«
Sumire wandte den Blick vom Himmel ab und sah mir ins Gesicht. »Wie ein Wirbelsturm auf freiem Feld?«
»Könnte man sagen.«
Einen Moment lang dachte sie über den Wirbelsturm auf freiem Feld nach.
»Hast du schon mal einen Wirbelsturm auf freiem Feld erlebt?«
»Nein«, erwiderte ich. In Musashino bekommt man (dankenswerterweise, muss ich sagen) nur selten einen waschechten Wirbelsturm zu Gesicht.
Eines Tages, ungefähr ein halbes Jahr später, kam die Liebe über Sumire, genau wie ich es vorausgesagt hatte, unvernünftig und heftig, ein Wirbelsturm auf freiem Feld. Die Liebe zu einer siebzehn Jahre älteren Frau – ihrem »süßen Sputnik«.
Als Miu und Sumire bei der Hochzeitsfeier nebeneinander saßen, taten sie, was alle Menschen auf der Welt in solchen Situationen tun: Sie stellten sich mit ihren Namen vor. Da Sumire ihren Namen hasste, nannte sie ihn nach Möglichkeit niemandem. Aber auf die Frage nach ihrem Namen nicht zu antworten, erschien ihr doch zu unhöflich.
Nach Auskunft ihres Vaters hatte Sumires verstorbene Mutter den Namen ausgewählt. Da sie »Das Veilchen« von Mozart besonders liebte, hatte für sie immer festgestanden, dass ihre erste Tochter diesen Namen tragen würde: Sumire, Veilchen. Im Plattenregal im Wohnzimmer stand eine Platte mit Liedern von Mozart, die zweifellos ihrer Mutter gehört hatte. Als Sumire noch klein war, hatte sie die schwere Langspielplatte immer wieder ganz vorsichtig aufgelegt, um sich das von Elisabeth Schwarzkopf und Walter Gieseking vorgetragene Lied anzuhören. Den Inhalt verstand sie nicht, aber die anmutige Melodie überzeugte sie davon, dass in dem Lied die Schönheit blühender Veilchen auf der Wiese besungen wurde. Sumire hatte das Bild deutlich vor Augen und liebte es.
Später jedoch versetzte eine japanische Übersetzung des Liedes aus der Schulbibliothek Sumire einen Schock. Das Lied handelte nämlich von einer gefühllosen Schäferin, die auf der Wiese ein hilfloses kleines Veilchen zertrampelt. Das Mädchen merkt nicht einmal, dass es die Blume zertreten hat. Auch wenn es ein Gedicht von Goethe war, konnte Sumire darin weder Liebreiz noch eine Moral entdecken.
»Warum musste meine Mutter mir ausgerechnet den Namen von einem so scheußlichen Lied geben?«, fragte Sumire mit gerunzelter Stirn.
Miu faltete die
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