Sputnik Sweetheart
Hunger und Durst. Der Gedanke trieb mich fast zum Wahnsinn.
Aber die Polizeibeamten hatten mir ja versichert, dass auf der Insel keine Brunnen existierten. Angeblich gab es in der Umgebung des Ortes nicht einmal irgendwelche Löcher. Auf dieser kleinen Insel konnte es unmöglich ein Loch oder einen Brunnen geben, von dem sie nichts wussten. Ganz sicher nicht.
Ich beschloss, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen und es mit einer Theorie zu versuchen.
Angenommen, Sumire war auf die andere Seite gegangen.
Damit wäre alles erklärt. Sumire hatte den Spiegel zertrümmert und war auf die andere Seite vorgedrungen. Vermutlich in der Absicht, der anderen Miu zu begegnen. Wäre das nicht eine logische Reaktion darauf, dass die diesseitige Miu sie zurückgewiesen hatte?
Ich kramte in meiner Erinnerung. »Was können wir tun, um eine Kollision zu vermeiden?«, hatte sie geschrieben. »Logisch gesehen ist es ganz einfach. Wir brauchen nur zu träumen. Immer weiter zu träumen. Nicht mehr aus der Welt der Träume zurückkehren. Für immer dort leben.«
Dabei stellte sich nur ein Problem.Ein großes Problem. Wie kam man dorthin?
Logisch gesehen ganz einfach. Aber konkret nicht lösbar.
Damit stand ich wieder am Anfang.
Ich dachte an Tokyo. An meine Wohnung, meine Schule, den Küchenabfall, den ich verstohlen in einen Mülleimer am Bahnhof geworfen hatte. Obwohl ich erst zwei Tage fort war, kam mir Japan wie eine andere Welt vor. In einer Woche begann das neue Schuljahr. Ich stellte mir vor, wie ich vor fünfunddreißig Schülern stand. Dass ausgerechnet ich jemanden unterrichten sollte, erschien mir aus der Distanz seltsam und abwegig. Auch wenn es nur zehnjährige Kinder waren.
Ich nahm die Sonnenbrille ab. Nachdem ich mir mit demTaschentuch den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, setzte ich sie wieder auf und schaute den Seevögeln nach.
Ich dachte an Sumire. Und an die heftige Erektion, die ich am Tag ihres Umzugs bekommen hatte, während ich neben ihr saß. So hart und riesig war mein Penis noch nie gewesen. Als stünde er kurz davor zu platzen. Damals liebte ich Sumire in der Fantasie – vielleicht in ihrer »Welt der Träume«. In meiner Erinnerung war dieses Erlebnis jedoch weit realer als alle sexuellen Begegnungen, die ich je in der Wirklichkeit gehabt hatte.
Mit dem Rest der Limonade spülte ich den Speichel hinunter, der sich in meinem Mund gesammelt hatte.
Ich wandte mich erneut meiner »Hypothese« zu, wobei ich diesmal noch einen Schritt weiter ging. Angenommen, Sumire hatte tatsächlich irgendeinen Ausgang gefunden. Wie er aussah und wie Sumire ihn entdeckt hatte, konnte ich nicht wissen. Mit diesen Fragen würde ich mich später beschäftigen. Nahmen wir also einmal an, es handelte sich um eine Tür. Ich schloss die Augen und stellte mir diese Tür konkret und plastisch vor. Eine ganz gewöhnliche Tür in einer ganz normalen Wand. Sumire entdeckte diese Tür, drehte den Türknauf und schlüpfte hinaus – von dieser Seite auf die andere. In einem dünnen Pyjama und Badeschlappen.
Wie die Szenerie jenseits der Tür beschaffen sein mochte, überstieg meine Vorstellungskraft. Jedenfalls hatte die Tür sich geschlossen, und Sumire war verschwunden.
Ich kehrte zum Haus zurück und machte mir aus den Zutaten, die ich im Kühlschrank fand, ein einfaches Abendessen. Pasta mit Tomaten und Basilikum, ein Salat, dazu ein Amstel-Bier. Anschließend setzte ich mich auf die Veranda und hing meinen Gedanken nach. Oder dachte an nichts. Niemand rief an. Vielleicht würde Miu versuchen, mich aus Athen zu erreichen. Allerdings konnte man sich auf die Telefonverbindung zur Insel nicht verlassen.
Wie am Tag zuvor wurde das Blau des Himmels von Minute zu Minute tiefer, ein großer runder Mond ging über dem Meer auf, und zahllose Sterne piekten kleine Löcher ins Firmament. Ein Windstoß blies den Hang hinauf und brachte die Hibiskusblüten zum Schwanken. Der Leuchtturm am Ende des Piers blinkte auf und erlosch in seinem althergebrachten Rhythmus. Gemächlich trieben Einheimische ihre Esel den steilen Hang hinunter. Ihre Gespräche wurden lauter, wenn sie sich näherten, dann wieder leiser. Still nahm ich diese fremdländische Szene, die so vollkommen natürlich wirkte, in mich auf.
Den ganzen Abend über läutete weder das Telefon, noch tauchte Sumire auf. Ruhig strömte die Zeit dahin, und die Nacht brach herein. Ich holte mir ein paar Kassetten aus Sumires Zimmer und spielte sie auf der Anlage im
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