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Sputnik Sweetheart

Sputnik Sweetheart

Titel: Sputnik Sweetheart Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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konnte, war zuerst ein Schock, aber ich grämte mich deswegen nicht, weil ich ahnte, dass es früher oder später vielleicht ohnehin so gekommen wäre – irgendwann …« sagte Miu mit einem Lächeln. »Auf der Welt wimmelt es nur so von Pianistinnen, dabei würden etwa zwanzig erstklassige Pianisten völlig genügen. Wenn du in einen Musikladen gehst und dir die vielen Aufnahmen der ›Waldstein-Sonate‹, der ›Kreisleriana‹ und so weiter ansiehst, verstehst du, was ich meine. Das Repertoire der klassischen Musik ist schließlich begrenzt, und der Platz auf den CD-Regalen auch. Die internationale Musikbranche käme also mit zwanzig Spitzenpianisten sehr wohl aus. Da war es nicht gerade ein unersetzlicher Verlust für die Menschheit, wenn ich nicht mehr Klavier spielen konnte.«
    Miu spreizte die Finger und drehte die Hände hin und her, wie um sich ihrer Erinnerungen zu vergewissern.
    »Nach etwa einem Jahr in Frankreich fiel mir etwas Sonderbares auf. Leute, die mir ganz offensichtlich technisch unterlegen waren und sich weniger Mühe gaben, rührten ihr Publikum tiefer, als ich es vermochte, sodass ich bei Musikwettbewerben stets auf einem der letzten Plätze landete. Beim ersten Mal hielt ich es für ein Missverständnis, aber dann wiederholte sich das Gleiche immer wieder. Es verdross mich, machte mich sogar wütend, und ich fühlte mich ungerecht behandelt. Doch mit der Zeit spürte ich es selbst – es fehlte mir an irgendetwas Entscheidendem, auch wenn ich nicht wusste, woran. Um bewegende Musik hervorbringen zu können, braucht ein Mensch eine gewisse Tiefe. In Japan war mir das nicht aufgefallen, denn dort war ich nie jemandem unterlegen gewesen und hatte auch nie die Zeit gehabt, meine eigenen Auftritte kritisch zu betrachten. Aber in Paris, inmitten so vieler begabter Musiker, begriff ich es endlich. Es war, wie wenn die Sonne aufsteigt und den Nebel vertreibt.«
    Mit einem Seufzen hob Miu den Kopf und lächelte.
    »Schon als Kind habe ich ohne Rücksicht auf meine Umgebung meine eigenen Regeln aufgestellt und mich daran gehalten. Ich war ein sehr unabhängiges, vernünftiges Mädchen. Da ich in Japan geboren und zur Schule gegangen bin und nur japanische Spielkameraden hatte, war ich meinem Gefühl nach Japanerin, obwohl ich offiziell als Ausländerin galt. Meine Eltern waren nicht streng, aber eine Sache hämmerten sie mir von klein auf ein: Du bist und bleibst hier Ausländerin. Also beschloss ich, stark zu werden, um in der fremden Welt bestehen zu können.« Miu klang heiter, als sie das sagte.
    »Stärke ist ja an sich auch nichts Schlechtes. Im Rückblick habe ich jedoch den Verdacht, dass ich mich zu übertriebener Stärke erzog, was schließlich dazu führte, dass ich auf die Schwächen anderer herabsah. Ich erzog mich zum Glück und zur Gesundheit, ohne je zu versuchen, Verständnis für Glücklose und Kranke aufzubringen. Sooft ich einem Menschen begegnete, der von seinem Unglück wie gelähmt war, dachte ich in meiner Überheblichkeit, er habe sich eben nicht genügend angestrengt. Menschen, die sich beklagten, hielt ich für Schwächlinge. Meine Lebenseinstellung war unerschütterlich realistisch, aber es fehlte mir an menschlicher Wärme. Doch in meiner näheren Umgebung fiel das anscheinend niemandem auf.
    Mit siebzehn verlor ich meine Jungfräulichkeit und schlief, wenn mir danach war, auch mit Männern, die ich kaum kannte. Aber Liebe – echte Liebe – empfand ich kein einziges Mal. Ich hatte, ehrlich gesagt, auch kein Bedürfnis danach. In meinem Kopf war nur Platz für eins: Ich wollte eine Spitzenpianistin werden, und ich war nicht bereit, auch nur im Geringsten von diesem Weg abzuweichen. Mir fehlte etwas, aber als ich das bemerkte, war es bereits zu spät.«
    Wieder betrachtete sie nachdenklich ihre gespreizten Finger.
    »In diesem Sinne habe ich das, was mir vor vierzehn Jahren in der Schweiz passiert ist, vielleicht sogar selbst provoziert. Manchmal kommt es mir fast so vor.«
     
    Mit neunundzwanzig heiratete Miu, obwohl sie seit dem Vorfall in der Schweiz sexuell nichts mehr empfinden konnte. Etwas in ihr schien für immer verloren zu sein. Sie erzählte ihrem Mann von dem Vorfall, um ihm verständlich zu machen, warum sie ihn nicht heiraten könne. Aber er liebte Miu sehr und wollte sein Leben mit ihr teilen, auch wenn er auf körperliche Beziehungen zu ihr verzichten musste. Miu sah keinen Grund mehr, seinen Antrag abzulehnen. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit und hatte

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