Sputnik Sweetheart
Licht verzerrte jedes Geräusch, spülte jeden Sinn hinweg und stürzte die Herzen ins Chaos. Der Mond hatte Miu ihr anderes Ich gezeigt, Sumires Kätzchen entführt und sie dann selbst fortgelockt. Und auch mich hatte er mit jener geisterhaften Musik, die (wahrscheinlich) nie existiert hatte, hierher gelockt. Vor mir breitete sich bodenlose Finsternis aus, hinter mir eine Welt aus bleichem Licht. Vom Mondlicht übergossen stand ich auf einem Berg in einem fremden Land und überlegte, ob dies alles nicht von Anfang an sorgfältig geplant gewesen war.
Ich kehrte ins Haus zurück und genehmigte mir ein Glas von Mius Brandy. Danach versuchte ich vergeblich zu schlafen. Es gelang mir nicht eine Sekunde. Bis im Osten die Dämmerung heraufzog, hielt mich der Mond mit aller Kraft in seinem Bann.
Ich stellte mir ein paar ausgehungerte Katzen in einer Einzimmerwohnung vor. Kleine, flauschige Fleischfresser. Ich – mein wirkliches Ich – war tot, und sie lebten. Sie aßen mein Fleisch, nagten an meinem Herzen, tranken mein Blut. Wenn ich aufmerksam lauschte, hörte ich wie von weither, wie sie mein Gehirn ausschlürften. Drei geschmeidige Katzen, die meinen zerbrochenen Schädel umringten und die graue schlammige Suppe meiner Gehirnmasse schlürften. Mit ihren roten, rauen Zungenspitzen lecken sie die weichen Falten meines Bewusstseins aus. Und bei jedem Zungenschlag flackert es noch einmal auf, bis es sich ganz in heiße Luft aufgelöst hat.
14
Wir fanden nie heraus, was mit Sumire geschehen war. Sie hatte sich in Luft aufgelöst, oder, um es wie Miu auszudrücken, in Rauch.
Zwei Tage später traf Miu mit der Vormittagsfähre wieder auf der Insel ein. Ein Angestellter der japanischen Botschaft und ein für Angelegenheiten des Tourismus zuständiger griechischer Polizeibeamter begleiteten sie. Gemeinsam mit der einheimischen Polizei wurde eine umfassende Untersuchung durchgeführt, die auch die Inselbewohner einbezog. Das Foto aus Sumires Pass wurde landesweit in allen Zeitungen veröffentlicht. Obwohl daraufhin bei der Polizei und der Presse zahlreiche Hinweise eingingen, ergab sich keine Spur. Keine der Informationen betraf Sumire.
Kurz bevor Sumires Eltern auf der Insel ankamen, reiste ich ab. Die Schule fing bald an, aber der Hauptgrund für meine eilige Abreise war die Furcht vor einer Begegnung mit ihnen. Überdies hatten die japanischen Medien Wind von der Sache bekommen und Erkundigungen bei der japanischen Botschaft und bei der Polizei eingezogen. Also sagte ich Miu, ich müsse allmählich nach Tokyo zurück. Auch wenn ich noch auf der Insel bliebe, würde das nicht helfen, Sumire zu finden.
Miu stimmte mir zu. Dass ich bis jetzt geblieben sei, sei ihr eine große Hilfe gewesen, versicherte sie mir. »Ohne Sie wäre ich völlig verloren gewesen. Aber jetzt komme ich allein zurecht. Ich werde es Sumires Eltern schon irgendwie beibringen. Und mit den Journalisten werde ich auch fertig. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie tragen ja keine Verantwortung für dieses Unglück. Wenn es sein muss, kann ich sehr energisch sein, und ich bin es gewöhnt, Dinge selbst in die Hand zu nehmen.«
Sie brachte mich zum Hafen, und ich nahm die Nachmittagsfähre nach Rhodos. Seit Sumires Verschwinden waren genau zehn Tage vergangen. Miu umarmte mich zum Abschied. Es fühlte sich ganz natürlich an. Einen langen Augenblick streichelte sie mir wortlos den Rücken. Trotz der glühenden Nachtmittagshitze war ihre Hand erstaunlich kühl. Miu schien mir damit etwas mitteilen zu wollen. Ich schloss die Augen und lauschte ihrer Botschaft, für die es keine Worte gab. Schweigend tauschten Miu und ich etwas aus, das sprachlich nicht zu übermitteln war.
»Passen Sie auf sich auf«, sagte sie.
»Sie auch«, erwiderte ich. Eine Weile standen wir schweigend am Landungssteg der Fähre.
»Ich möchte, dass Sie mir eine aufrichtige Antwort geben«, sagte Miu ernst. »Glauben Sie, dass Sumire noch am Leben ist?«
Ich nickte. »Ich habe keinen konkreten Grund dafür, aber ich bin fast sicher, dass Sumire lebt. Selbst nach dieser ganzen Zeit habe ich kein bisschen das Gefühl, dass sie tot ist.«
Miu verschränkte ihre braun gebrannten Arme und sah mir ins Gesicht.
»Ehrlich gesagt, empfinde ich es genauso«, sagte sie. »Ich glaube auch nicht an Sumires Tod. Zugleich ahne ich, dass ich sie nie wiedersehen werde. Und auch ich habe für diese Annahme keinen konkreten Grund.«
Ich sagte nichts mehr. Unser Schweigen schien alle
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