Sputnik Sweetheart
verloren. Dennoch hatte sie auf der kleinen griechischen Insel in verhältnismäßig kurzer Zeit zwei längere Texte verfasst. Dazu brauchte man Muße und Konzentration. Es musste ein starkes Motiv gegeben haben, das Sumire an den Schreibtisch getrieben hatte.
Nur welches? Oder genauer ausgedrückt, wo lag das Motiv, das die beiden Texte verband? Ich blickte auf und beobachtete nachdenklich die Seevögel auf der Hafenmole.
Eigentlich war es für so komplizierte Gedanken zu heiß. Überdies war ich verstört und müde. Ich riss mich zusammen und sammelte die Konzentrationsfähigkeit, die mir geblieben war, wie die versprengten Überbleibsel einer geschlagenen Armee – allerdings ohne Pauken und Trompeten. Mein Verstand begann wieder zu arbeiten.
»Viel wichtiger als die großen Systeme, die in den Köpfen anderer Leute erdacht wurden, sind die kleinen Dinge, auf die man selber kommt«, flüsterte ich mir zu. Das versuchte ich zumindest meinen Schülern beizubringen. Aber stimmte das denn auch? Es sagt sich so leicht, aber in der Praxis ist es entsetzlich schwer, auch nur etwas ganz Kleines herauszufinden. Vielleicht ist es sogar schwerer, etwas Kleines herauszufinden als etwas Großes. Vor allem, wenn man so weit fort von zu Hause ist.
Sumires Traum. Mius Gespaltenheit.
Da fiel mir plötzlich ein, worum es ging: die beiden getrennten Welten. Sie waren der gemeinsame Nenner der beiden Texte, die Sumire verfasst hatte.
(Dokument 1)
Hier wird in der Hauptsache Sumires Traum erzählt, in dem sie eine lange Treppe hinaufsteigt, um ihrer verstorbenen Mutter zu begegnen. Doch als sie oben ankommt, kehrt ihre Mutter in die jenseitige Welt zurück, ohne dass Sumire sie aufhalten kann. Sie findet sich auf einer Turmspitze wieder, auf der kein Bleiben für sie ist und wo Flugobjekte von einem anderen Stern sie umkreisen. Sumire hat viele Träume nach diesem Muster.
(Dokument 2)
In diesem Text werden die mysteriösen Ereignisse und ihre Begleitumstände geschildert, die Miu vor vierzehn Jahren erlebt hat. Eine Nacht lang eingesperrt in einem Riesenrad in einer Schweizer Kleinstadt, beobachtet sie durch ein Fernglas sich selbst – oder ihre Doppelgängerin – in ihrer Wohnung. Dieses Erlebnis zerstörte die Person, die Miu war (oder brachte eine bereits vorhandene Störung an die Oberfläche). Nach Mius eigenen Worten war sie durch einen Spiegel von ihrem anderen Ich getrennt. Sumire hatte Miu überredet, ihr die Geschichte zu erzählen, und sie anschließend niedergeschrieben.
Das beide Texte verbindende Motiv war eindeutig jene »andere Seite«, die als Pendant zu »dieser Seite« existierte, sowie das Wechselspiel zwischen beiden. Dieses Rätsel der zwei Welten war vermutlich die treibende Kraft, die Sumire dazu bewegt hatte, sich an ihr Pult zu setzen und diese Texte zu verfassen. Um ihre eigene Formulierung zu benutzen – sie hatte geschrieben, um etwas zu verstehen.
Als der Kellner meinen Sandwich-Teller abräumte, nutzte ich die Gelegenheit und bestellte noch eine Limonade. Ich bat um viel Eis. Als er das Getränk brachte, nippte ich nur daran und kühlte mir dann mit dem Glas wieder die Stirn.
»Und was ist, wenn Miu mich nicht will?« hatte Sumire zum Schluss geschrieben. »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als damit fertig zu werden. Wenn jemand erschossen wird, fließt Blut. Ich wetze ein Messer, denn ich muss irgendwo einem Hund die Kehle durchschneiden.«
Was wollte Sumire damit sagen? Deutete sie an, dass sie Selbstmord begehen wollte? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ihren Worten haftete kein Todesgeruch an. Eher sprach aus ihnen der Wille vorwärtszugehen, etwas Neues zu beginnen. Hunde und Blut hatten nur eine metaphorische Bedeutung – wie ich ihr damals auf der Bank im Inokashira-Park erklärt hatte. Sie standen für das Leben in seiner mythischen Gestalt. Die Geschichte über die chinesischen Tore, die ich ihr erzählt hatte, diente als Metapher für den Prozess, in dem eine Geschichte an lebendiger Magie gewinnt.
Irgendwo muss ich einem Hund die Kehle durchschneiden.
Irgendwo?
Meine Gedanken stießen gegen eine solide Mauer. Hier kam ich nicht weiter.
Wo konnte Sumire nur sein? Gab es auf dieser Insel einen Ort, den sie aufsuchen musste?
Ich konnte die Vorstellung, dass Sumire an einem entlegenen Ort in einen tiefen Brunnenschacht gestürzt war und dort ganz allein auf Rettung wartete, nicht aus dem Kopf verbannen. Vielleicht war sie verletzt, verzweifelt, litt unter
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