Sputnik Sweetheart
Maßstab für jede künstlerische Darbietung setzte.
Wladimir Horowitz’ Tonbandaufnahmen von Chopin, ganz besonders die Scherzi, waren doch hinreißend. Und war es nicht fast unglaublich, wie geistreich und wunderschön Friedrich Gulda Debussys Preluden spielte? Und dann Giesekings bezaubernde Interpretation von Grieg! Gar nicht zu reden von Svjatoslav Richter, der wie kein anderer die herrliche Tiefe von Prokofieffs Werk erfasste, sodass man sich seinem virtuos zurückhaltenden Spiel immer wieder hingeben konnte. Und warum nur wurde Wanda Landowska trotz der Wärme und Empfindsamkeit ihrer Mozart-Sonaten so sehr unterschätzt?
»Was machen Sie zurzeit?« fragte Miu, als sie ihr Gespräch über Musik vorläufig beendet hatten.
Sumire erklärte ihr, sie habe ihr Studium aufgegeben und nehme ab und zu kleinere Jobs an, während sie versuche, Schriftstellerin zu werden. Welche Art von Romanen sie denn schreiben wolle, fragte Miu. Das sei nicht mit einem Wort zu erklären, entgegnete Sumire.
»Und was lesen Sie am liebsten?«, fragte Miu.
»Wenn ich Ihnen das aufzähle, sitzen wir morgen noch hier, aber in letzter Zeit lese ich viel Jack Kerouac.« So kam es zu der Sputnik-Geschichte.
Abgesehen von leichter Unterhaltungsliteratur nahm Miu kaum je ein Buch zur Hand. Sie könne das Wissen, dass alles erfunden sei, einfach nicht aus ihrem Kopf verbannen und darum die Gefühle der Charaktere nicht miterleben, erklärte sie. Das sei seit jeher so gewesen. Daher beschränke sich ihre Lektüre auf Sachbücher, die sich mit der Realität beschäftigten. Fast ausschließlich Werke, die ihr bei ihrer Arbeit nützlich seien.
»Was sind Sie denn von Beruf?« fragte Sumire.
»Meine Arbeit hat viel mit dem Ausland zu tun«, sagte Miu. »Vor dreizehn Jahren habe ich als älteste Tochter die Handelsfirma meines Vater übernommen. Eigentlich wollte ich Pianistin werden, aber mein Vater starb an Krebs, und meine Mutter war auch nicht gesund. Außerdem konnte sie nicht besonders gut Japanisch. Mein Bruder ging noch zur Schule, also sollte zunächst einmal ich die Verantwortung für die Firma übernehmen. Ein nicht unerheblicher Teil unserer Verwandten verdiente seinen Lebensunterhalt in der Firma, sodass wir sie nicht einfach aufgeben konnten.« Wie ein Punkt markierte ein kleiner Seufzer das Ende des Satzes.
»Die Firma meines Vaters importierte ursprünglich getrocknete Lebensmittel und Arzneikräuter aus Korea, aber inzwischen handeln wir mit einem großen Sortiment von Waren, sogar mit Computerteilen. Offiziell bin ich immer noch Leiterin des Unternehmens, aber in Wirklichkeit haben inzwischen mein Mann und mein Bruder die Firma übernommen, sodass ich mich nur noch gelegentlich im Büro blicken lassen muss. Ich habe jetzt mein eigenes Geschäft.«
»Und was ist das?«
»Hauptsächlich importiere ich Wein, bisweilen organisiere ich auch Musikveranstaltungen. Ich muss viel zwischen Japan und Europa hin- und herreisen, persönliche Beziehungen sind in dieser Branche entscheidend. Deshalb kann ich auch, obwohl ich allein bin, mit einigen erstrangigen Handelsunternehmen konkurrieren. Klar, ein solches Netz an Beziehungen aufzubauen und zu unterhalten kostet Zeit und Kraft…« Sie blickte auf, als sei ihr plötzlich eine Idee gekommen. »Übrigens, können Sie Englisch?«
»Sprechen kann ich nicht so besonders, es geht gerade so. Aber ich lese gern Englisch.«
»Können Sie einen Computer bedienen?«
»Nicht richtig, aber ich benutze einen Wortprozessor und könnte es bestimmt schnell lernen.«
»Fahren Sie Auto?«
Sumire schüttelte den Kopf. Seit sie in ihrem ersten Jahr an der Uni mit dem Volvo ihres Vaters rückwärts in die Garage fahren wollte und dabei an einem Pfosten die Tür eingedrückt hatte, war sie kaum noch gefahren.
»Na gut, könnten Sie mit höchstens zweihundert Wörtern den Unterschied zwischen einem Zeichen und einem Symbol erklären?«
Sumire nahm die Serviette von ihrem Schoß, tupfte sich die Mundwinkel ab und legte sie wieder hin. Sie verstand nicht, worauf ihre Gesprächspartnerin hinauswollte. »Zwischen Zeichen und Symbol?«
»Das hat keine besondere Bedeutung. Nur zum Beispiel.«
Sumire schüttelte wieder den Kopf. »Keine Ahnung.«
Miu lächelte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, sagen Sie mir doch bitte, welche praktischen Fähigkeiten Sie haben. Was Sie besonders gut können. Außer lesen und Musik hören.«
Leise legte Sumire Messer und Gabel auf dem Teller ab, starrte in den leeren
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