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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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auch für Meldis tun? Geht dein Mitgefühl so weit?“
    Ihr Gesicht wurde blass. Sie streckte die Hand aus, zog sie aber im gleichen Moment wieder zurück. „Sie ist ein unschuldiges junges Mädchen …“, stammelte sie heiser. „Sie hat ein Recht darauf zu leben.“
    „Das hatte Astrid auch“, entgegnete er hart. Der rote Nebel, der ihm die Sicht verschleierte, löste sich auf. „Und du hast es ebenso. Verdammt, Tessa, du musst nicht das Leben eines anderen Menschen zu deinem machen. Du hast ein eigenes. In deiner Welt.“
    „In meiner Welt wird mich keiner vermissen. Mein Leben ist leer, ohne Sinn. Darum muss ich Meldis retten. Damit ich wenigstens irgendetwas in meinem Leben getan habe, das Sinn hat. Warum bin ich sonst geboren worden?“
    Er sah die Tränen in ihren Augen und die nackte, unverhüllte Verzweiflung. Mit Gewalt unterdrückte er den Impuls, sie an sich zu ziehen und zu trösten, denn nichts wollte sie jetzt weniger als Mitleid.
    Das war es also. Nicht die Neurose, die hatte man ihr zwar gründlich eintherapiert, sondern die Frage nach der Rechtfertigung ihrer Existenz, nach dem elementaren Warum, das sich alle Menschen früher oder später stellten und auf das sie für sich keine Antwort fand. Oder gefunden hatte. Bis jetzt.
    Behutsam versuchte er, sie zu überzeugen. „In deinem Leben gibt es viel mehr als Meldis. Überleg doch, es …“
    „Ich brauche nicht zu überlegen. Die einzigen beiden Menschen, die mich vermissen würden, sind Berit und meine Therapeutin. Und meine Therapeutin auch nur, weil sie dann eine monatliche Fixeinnahme weniger hat.“ Sie wischte mit dem Handrücken über ihre Wange und warf den Kopf zurück. „Und so sehr ich Berit auch mag, sie kann mir nichts von dem geben, was ich wirklich will oder brauche.“
    „Tessa …“ Er hob in einer hilflosen Geste die Hand. Ihre Anschuldigung, nur ein Ersatz für Astrid zu sein, hallte noch immer in seinem Kopf. Das war sie nicht, auch wenn sie tatsächlich in seinen Lebensplan passte wie ein fehlendes Puzzleteil. Aber trotz aller Übereinstimmungen war es sein Lebensplan – nicht der ihre. Was, wenn sie nicht mit ihm gemeinsam das Torget Sjøhus bewirtschaften wollte? Sich von Bjørendahl zu lösen hieß, wirklich alle Erinnerungen hinter sich zu lassen. Alle Erinnerungen unwiderruflich zu begraben. War er dazu bereit – im Fall, dass sie wieder zurückkamen? Er wusste es nicht, aber das änderte nichts daran, dass er sie liebte, wie er in diesem Moment mit aller Klarheit erkannte. Und das konnte er ihr sagen, damit konnte er ihr Zuversicht geben.
    „Tessa …“, begann er noch einmal, aber sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung.
    „Sag’s nicht. Ich brauche für mich die Bestätigung, dass mein Leben nicht völlig sinnlos ist. Und Meldis ist die große Chance, mir genau das zu beweisen. Ich glaube fest daran, dass mir diese Prüfung auferlegt wurde, um daran zu wachsen. Um mein eigenes Geschick besser meistern zu können.“
    Sie standen sich gegenüber. Er hatte keine Argumente, die ihre Überzeugung ändern konnten, und das wusste er auch. In diesem Moment zählten seine Gefühle für sie nicht. Also blieb nur, die Linien zu ziehen.
    Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich werde Meldis sagen, dass ich sie freigebe. Dann warten wir ab, was passiert. Ist das in deinem Sinn?“
    Tessa seufzte. „Nein. Aber wenn du den Preis für das Schwert nicht bezahlen willst – oder kannst“, fügte sie resignierend hinzu, „dann bleibt uns ja keine Wahl.“
    „Siehst du wenigstens, dass meine Idee nicht völlig abwegig ist?“, fragte er, ohne sich von ihren Worten oder dem Tonfall beirren zu lassen. „Dass die beiden vielleicht eine Chance haben?“
    Statt einer Antwort zuckte sie die Achseln. „Ich werde Meldis nicht aus den Augen lassen. Auch wenn sie tatsächlich mit Kaldak geht. Das ist dir doch klar? Du musst dich dann selbst darum kümmern, zurückzukommen.“
    Die Tür wurde aufgerissen und Meldis stürzte in den Raum. „Ich muss mich umziehen, schnell, es …“ sie brach ab, als sie Serre erblickte. „Sei gegrüßt, Serre. Was kann ich für dich tun?“ Scheinbar kam sie gar nicht auf die Idee, dass er nicht zu ihr, sondern zu Alva wollte.
    Nick räusperte sich. „Ich möchte mit dir reden, Meldis. Morgen. Ich hole dich ab. Es ist wichtig, also sei gegen Mittag bereit.“
    Er wartete die Antwort nicht ab, nickte Tessa zu und verließ das Haus. Ziellos folgte er der Straße durchs Nordtor. Wenn

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