Stachel der Erinnerung
ganz hervorragend. Ebenso fügte sich der übliche Stau perfekt ins Bild des wieder erwachenden Arbeitsalltags. Etwas atemlos – der Lift war außer Betrieb - betrat sie ihr Büro am Institut für Skandinavistik, das sie mit zwei weiteren Kollegen teilte. Zu ihrer Überraschung lehnte der Abteilungsvorstand, Dr. Jochen Beringer, an ihrem Schreibtisch und spielte mit einem Brieföffner.
„Guten Morgen, Dr. Beringer“, beeilte sie sich zu sagen und hoffte, dass ihn ihr Lächeln die Verspätung vergessen ließ. „Was für ein Hundewetter.“
Beringers kühler Blick machte ihre Hoffnung zunichte. „In der Tat, Dr. Wernhardt. Trotzdem haben es manche pünktlich hierher geschafft.“
Tessas Blick wanderte zu einem Mann, der beim Fenster stand und sich jetzt zu ihr umdrehte. Langsam kam er näher und blieb neben Beringer stehen, was den nicht gerade zierlichen Abteilungsvorstand plötzlich wie ein schlaksiges Wichtelmännchen erscheinen ließ. Der elegante Anzug kaschierte seine wandschrankartige Statur nur unzulänglich, das dichte blonde Haar sah zerzaust aus und der durchdringende Blick seiner außergewöhnlich hellen Augen konnte renitente Studenten vermutlich ohne ein laut ausgesprochenes Wort zur Räson bringen. Natürliche Autorität, genau das, was ihr selbst fehlte.
Beringer riss sie aus ihren Gedanken, als er mit kühler Sachlichkeit fortfuhr. „Ich darf Ihnen Dr. Nicolas Dayton vorstellen. Er wird Ihre Kollegin Michaela Wieser vertreten, die sich wegen einer problematischen Schwangerschaft karenzieren lässt.“
„Ach, hat es Michaela doch geschafft, endlich schwanger zu werden.“ Der Satz rutschte ihr heraus, ehe sie nachdachte und prompt färbten sich ihre Wangen rot. Beringer hob tadelnd die Brauen, der Mann neben ihm schwieg, aber der sezierende Ausdruck in seinen Augen wurde durch ein amüsiertes Funkeln ersetzt.
Auch das noch. Sie machte sich schon mit den ersten Worten vor dem neuen Kollegen zu einer Witzfigur. Tessa räusperte sich und streckte ihm die Hand hin. „Erfreut, Dr. Dayton. Michaelas Arbeitsplatz ist dort drüben.“
Er drückte ihre Hand. „Gleichfalls, Dr. Wernhardt. Ich kannte übrigens Ihren Vater.“
Tessa nickte schicksalsergeben und ließ ihr Lächeln auf dem Gesicht festfrieren. Auch das noch. „Wie schön.“
Beringer ging zur Tür. „Ich sehe Sie beide später beim allgemeinen Meeting.“ Damit ließ er sie mit dem neuen Kollegen alleine.
Dr. Dayton hielt noch immer ihre Hand fest und Tessa fragte sich, wie sie sich ohne Peinlichkeit aus der Situation befreien könnte. „Wenn Sie meinen Vater kannten …“, begann sie, wurde aber unterbrochen.
„Das tat ich. Allerdings konnte ich ihn nicht leiden, nur um keine falschen Hoffnungen aufkommen zu lassen, und dieses Gefühl beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit.“ Er ließ ihre Hand los.
„Ach“, murmelte Tessa schwach. Das war ja etwas ganz Neues.
Während sie um ihren Schreibtisch herumging und sich auf ihren Stuhl fallen ließ, überlegte sie, wie sie auf diese Ansage reagieren sollte. „Ich hoffe, das wird unserer Zusammenarbeit nicht hinderlich sein, Dr. Dayton.“
„Nick“, korrigierte er. „Nur, wenn Sie von meiner Übersetzung der Snorri Sturluson Edda nicht restlos begeistert sind.“
„Ich bin Historikerin, keine Philologin“, erwiderte sie und spielte mit dem Brieföffner, den Beringer liegen lassen hatte. „Wo haben Sie vorher unterrichtet?“
Er schlenderte näher und blieb schließlich vor ihrem Schreibtisch stehen. „Ich habe acht Jahre lang auf einer Insel im Eismeer gelebt, davor habe ich an der Universität von Manchester gelehrt.“
Tessa hob die Brauen. „Wie interessant. Und was hat Sie bewogen, in die Zivilisation zurückzukehren?“
„Das Gefühl, dass ich etwas ganz Unglaubliches verpassen würde, wenn ich nicht schleunigst wieder anfinge, zu leben.“
Er sah sie mit seinen unglaublich hellen Augen durchdringend an und Tessa wurde rot. Vom Kopf bis zu den Zehen. Ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, das seine Augen zum Leuchten brachte. „Und jetzt bin ich sicher, dass mich dieses Gefühl nicht getrogen hat.“
Ende
Glossar
Hel – Göttin der Unterwelt, sie ist gleichzeitig tot und lebendig. Tochter Lokis
Gjöll – Fluss, der die Unterwelt umgibt
Balder – Gott des Lichts, der schönste und strahlendste unter den Göttern, Sohn Odins. Durch Lokis Intrigen gelangt er in Hels Gewalt. Alle Befreiungsversuche der Götter
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