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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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Übergang bewachte. Kaldak verschwendete an die leblose Frau vor sich im Sattel keinen Gedanken. Sie war gestorben, im selben Moment, als er mit ihr in die Unterwelt stieg, denn hier gab es nur Tod, kein Leben. Die Bäume waren schwarze Skelette, in den entblätterten Sträuchern raschelte kein Niederwild und kein Singvogel hatte hier seinen Platz. Sogar die nackten Felsen wirkten kalt und tot.
    Ihn kümmerte das nicht. Sein Aufenthalt hier war nur vorübergehend. Seine Zukunft lag woanders. An einem Ort voller Licht und Wärme und Leben. Er musste nur die vierte Tochter der vierten Tochter ihrer Bestimmung zuführen, das war alles.
    Hel würde mit ihr tun, was immer sie für richtig hielt. In seinen Überlegungen überreichte er ihr bereits feierlich den Leichnam. Im Gegenzug überließ sie ihm Balder und er brachte ihn nach Asgard zu Odin. Der würde ihm auf ewig dankbar sein und ihn in die Reihen der Götter erheben, ihm den Platz geben, der ihm zustand. Mit seinen göttlichen Kräften konnte er Meldis wiedererwecken und an seine Seite holen, um mit ihr für alle Zeiten glücklich zu sein.
    Die Gerechtigkeit hatte endlich gesiegt. Er stieg ab und hob Tessa auf seine Arme. Mit festen Schritten ging er auf Gjallerbru zu, die Brücke über den Fluss, der ihn noch von Hel trennte.
    Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein Mann vor ihm. Über seiner Schulter hingen lange silberne Ketten, an deren Enden runde Schellen baumelten.
    Kaldak fuhr herum. Aber auch hinter ihm wartete ein Mann mit vor der Brust verschränkten Armen.
    „Diesmal mache ich es besser, Kaldak“, sagte der Mann mit den Ketten. „Kein Eis diesmal. Keine Chance für dich, jemals wieder mit den Menschen zu paktieren. Und die Götter zu verraten.“ Er trat näher und zog eine der Ketten mit einem scharfen Ruck von seiner Schulter.
    Kaldak blickte sich hilfesuchend um. Solange er die Frau in den Armen hielt, hatte er keine Chance, sich zu verteidigen. Das erste Mal hatten sie ihn erwischt, als er noch völlig getroffen war von Meldis Tod. Aber jetzt würde er es ihnen nicht so einfach machen. Er ließ Tessas Körper achtlos zu Boden gleiten, wo er verkrümmt liegen blieb.
    Mit einer schnellen Handbewegung griff Kaldak sein Schwert aus der Luft und schwang es über seinem Kopf. Eine Aureole aus Licht entstand, und die anderen mussten geblendet die Augen schließen.
    Triumphierend trat er näher. Die Ketten fielen klirrend zu Boden. Er achtete nicht darauf, sondern setzte den zurückweichenden Männern nach, das Schwert zum tödlichen Hieb gehoben.
    Ein Schritt noch, und er würde den Kopf des Anführers vom Rumpf trennen. Doch sein linker Stiefel steckte fest. Ohne die Männer aus den Augen zu lassen, versuchte er ihn freizubekommen und zerrte unwillig daran. Noch immer den Blick und das Schwert auf die Männer gerichtet, hockte er sich nieder und umfasste seinen Knöchel mit der Hand.
    Im selben Moment schnappte die Schelle um sein Handgelenk zu und zog ihn zu Boden. Das Schwert rutschte ihm aus der Hand. Sein Arm wurde nach hinten gerissen und sein ganzer Körper schrammte über den steinigen Untergrund zum Ufer des tosenden Flusses.
    Verzweifelt versuchte er sich festzuhalten und erwischte dabei Tessas Sweater. Die Kette glitt weiter über den Boden und zerrte ihn mit sich – immer näher zum felsigen Abgrund. Und schließlich darüber hinaus.
    Kaldak schrie, aber sein Schrei ging im wütenden Rauschen des Gjöll unter. Sein Körper krachte an den Felsen, seine Knochen brachen und erst jetzt ließ er Tessa los, die sofort von den schwarzen Fluten verschlungen wurde.
    Die Ketten wickelten sich um seine Arme und um seine Beine und verankerten sich in den Felsen über dem Fluss. Er starrte nach oben zu den Männern, die auf ihn hinunter blickten. Wieder hatten sie einen monotonen Singsang angestimmt. Der Anführer hob die Hand und im gleichen Moment zogen die Ketten Kaldak in den Felsen hinein. Sein Schrei erstarb und mit ihm die letzten Spuren seiner Existenz.
     
    Nick blickte noch immer auf die Maske in seinen Händen. Sie hatte die Feuchtigkeit aufgesogen wie ein Schwamm, und war weich und labbrig geworden. Trotzdem brachte er es nicht über sich, sie wegzuwerfen. Genauso wenig wie er es über sich brachte, das Schiff zu verlassen.
    Seine ihm vom Schicksal zugedachte Aufgabe war es gewesen, Kaldak zu töten. Dann hätten Serre und Alva glücklich sein können. Dann wäre Tessa niemals in die Unterwelt verschleppt worden. Aber er hatte gezögert,

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