Stachel der Erinnerung
eine Klinge“, mahnte Urd das junge Mädchen, als sie ihn auf Skluds flache Hand legte.
Skuld betrachtete den dreieckigen Dorn. Er sah so harmlos aus und trotzdem zerstörte er das Leben eines Menschen. Eines Menschen, der mehr Anspruch auf wahres Glück hatte, als so mancher anderer.
Sie warf Urd, die den Faden auf ihrer Spindel vorsichtig ein Stück abwickelte, einen schnellen Blick zu und rannte dann zum Brunnen, ehe die alte Norne reagieren konnte.
Mit einem triumphierenden Funkeln in den Augen ließ sie den Stachel der Erinnerung in den Brunnen fallen. Hinter sich hörte sie die beiden alten Frauen zetern und schreien. Aber sie drehte sich nicht um, sondern betrachtete ihr Spiegelbild in der dunklen Wasserfläche, die bereits wieder vollkommen glatt war, als wäre gar nichts geschehen.
Lachend legte sie dann den Kopf in den Nacken und breitete übermütig die Arme aus. „Die Vergangenheit und die Gegenwart könnt ihr gerne haben, meine Lieben, aber die Zukunft gehört mir. Und was ich mit ihr mache, das bestimme ich ganz alleine.“
Epilog
Tessa strich Butter auf eine Scheibe Vollkornbrot und blickte aus dem Fenster in den Septemberregen. Der Sommer war in diesem Jahr buchstäblich ins Wasser gefallen. Wäre sie nicht mit Berit für zwei Wochen nach Mallorca geflogen, sie wüsste nicht einmal mehr, wie die Sonne vor einem blauen Himmel aussah. Diese beiden Wochen waren erstaunlicherweise eine wirkliche Erholung gewesen. Sie hatten gelacht, geflirtet und sich mit Paella vollgestopft. Entgegen ihren Gewohnheiten hatte sie an Berits Seite die Nächte durchgemacht und sich von den glutäugigen Spaniern mit Komplimenten überschütten lassen. Und kein einziges Mal einen Anfall von Märchenprinzneurose gehabt oder sich vorgestellt, die Mutter eines Haufens kleiner schwarzhaariger Teufel zu sein. Die Therapie schien langsam wirklich Erfolg zu zeigen.
Im Anschluss an den Mallorca-Urlaub blieb Berit drei Wochen bei ihr in Hamburg, ehe sie wieder nach Oslo zurückkehrte. Auch in dieser Zeit hatten sie miteinander eine Menge Spaß gehabt und Tessa war keine Zeit für trübe Gedanken geblieben.
Das Handy meldete sich mit den Fanfaren von Starwars und Tessa griff danach.
„Hi, ich wollte dir nur einen stressfreien ersten Tag an der Uni wünschen“, sagte Berit.
„Danke. Wird schon schief gehen, bei meinem Glück krieg ich gleich einen Haufen Vertretungen auf den Schreibtisch geknallt, weil sich die lieben Kollegen wieder freistellen lassen für Ausgrabungen oder andere schöne Dinge. Und die Studenten sich bei mir langweilen müssen.“
„Denk ein bisschen positiver. Sonst geht es dir wie mir und du ziehst das Unglück an.“
„Um Himmels willen, ist etwas passiert?“, fragte Tessa alarmiert.
„Na ja“, sagte Berit zögernd. „Ich bin in ein Auto gekracht. Aber ich bin heil und ganz, im Gegensatz zu meinem Suzuki. Der hat nur mehr Schrottwert.“
„Ach nein, und dabei war er doch noch ganz neu“, rief Tessa und fügte pflichtschuldigst hinzu: „Hauptsache, dir ist nichts passiert. Und der andere Fahrer?“
„Der blieb auch unverletzt. Er fuhr einen Bergungswagen, eine Art Panzer für Pazifisten, der hat nicht mal einen Kratzer. Aber er hat sich trotzdem aufgeregt, als hätte ich ihm sein bestes Stück abgehackt.“ Sie kicherte. „Und dann hab ich ihn zum Essen eingeladen und am nächsten Tag haben wir uns noch mal getroffen und jetzt ist Hendrik so was wie mein zukünftiger Ex-Lebensabschnittsbegleiter.“
„Wie schön.“ Tessa lehnte sich erleichtert zurück. Berit machte tatsächlich auch aus den sauersten Zitronen Limonade. „Kommst du eben Weihnachten mit ihm her.“
„Sagen wir lieber Halloween, wer weiß, ob wir Weihnachten noch miteinander reden“, antwortete Berit unbekümmert.
Tessa lachte. „Also brauche ich mir augenblicklich keine Sorgen mehr um dein Liebesleben zu machen. Das trifft sich gut, weil ich auflegen und mich auf den Weg zur Uni machen muss.“
„Dann wünsche ich dir einen tollen Start. Machs gut.“
„Du auch.“ Tessa legte das Handy weg und trank den schon kalten Kaffee aus. Ihre Unterlagen hatte sie bereits am Vorabend bereitgelegt. Sie brauchte nur mehr in ihre Kostümjacke zu schlüpfen und die Autoschlüssel zu nehmen. Ein letzter Blick in den Garderobenspiegel im Vorzimmer bewies ihr, dass jedes Härchen an seinem Platz lag und die auf Mallorca erworbene Sonnenbräune längst verblasst war. Das passte zum beginnenden Alltag des neuen Uni-Jahres
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