Stachel der Erinnerung
dröhnend. „Natürlich ist sie tot. Aber ich bin Odin. Ein Wort von mir genügt und sie ist wieder quietschfidel. Also, zum Zeichen unserer Dankbarkeit rufe ich deine verstorbene Frau Astrid wieder ins Leben.“ Er reichte dem Mädchen das Buch, hob in einer dramatischen Geste die Arme und schloss sein Auge.
„Astrid?“, wiederholte Nick schwach und in seiner Stimme schwang Bestürzung.
Odin ließ die Arme sinken und öffnete sein Auge wieder. „Sie heißt doch Astrid, oder?“ Er winkte das Mädchen mit dem Buch nochmals näher und sah hinein.
„Deine große Liebe. Deine Frau Astrid, der du eine Niere gegeben hast und die trotzdem gestorben ist. Vor etwa acht Jahren nach menschlicher Zeitrechnung. So steht es hier.“
Wieder richtete sich Odins Blick prüfend auf ihn. Nick spürte, wie ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde. Astrid. An sie hatte er nicht gedacht. An sie hatte er schon sehr lange nicht mehr gedacht.
Von Odin kam ein Knurren, das eindeutig eine Unmutsäußerung darstellte. Papier raschelte, als er die nächste Seite im Buch aufschlug. „Ach, da ist ja noch eine. Tessa also.“
Nick beobachtete Odin, wie er mit dem Zeigefinger wieder die Zeilen entlangfuhr. Während er las, legte sich seine Stirn in Falten. Schließlich gab er dem neben ihm stehenden Mädchen ein Zeichen, das Buch zu nehmen. „Dieser Fall ist nicht so einfach. Kaldak hat ihre Existenz und ihre Lebensenergie samt der Wurzel aus der Welt der Sterblichen entfernt. Was er mit in die Unterwelt genommen hat, ist nichts als ein leerer Körper – mehr wollte Hel vermutlich auch gar nicht, wie ich sie kenne. Um es kurz zu machen, ich kann sie nicht zum Leben erwecken, weil sie nicht wirklich tot ist. Sie hat ja gar nicht gelebt. Nimm doch die andere“, schlug er aufmunternd vor. „Da geb ich dir sogar zwei gesunde Nieren dazu.“
Nicks Verstand setzte sich endlich doch in Bewegung. Odin bot ihm Astrids Leben an. Sie konnten wieder zusammen sein. Diesmal für immer. Langsam, ganz langsam stieg ein Gefühl in ihm auf, das eine verdammte Ähnlichkeit mit Glück besaß.
Er sah Astrid vor sich, wie sie ihm lachend entgegenlief. Ihr langes Haar flatterte im Wind, jede ihre Bewegungen drückte reine Lebensfreude aus. Es war genau das, was er sich immer gewünscht hatte – eine zweite Chance.
Ungebeten drängte sich ein anderes Bild dazwischen. Tessa, wie sie verzweifelt nach Ausreden suchte, um nicht darüber nachdenken zu müssen, dass er ihr seine Liebe anbot.
Die Entscheidung sollte ihm nicht schwerfallen. Auf der einen Seite eine Frau, mit der er alle Höhen und Tiefen ausgekostet hatte und die ihn ebenso geliebt hatte wie er sie.
Auf der anderen Seite Tessa, die alles hinterfragte, sich selbst, ihn, seine Motive und ihre Gefühle. Deren Psyche so zerbrechlich war wie eine Teetasse aus durchsichtigem chinesischen Porzellan. Die voller Verzweiflung zu ihm gesagt hatte: „Niemand würde mich vermissen, wenn ich nicht mehr da wäre.“ Und jetzt waren ihre Worte auf makabere Weise Wirklichkeit geworden.
Ohne dass er es merkte, rieb er seine Arme, als friere er. Eine weitere Episode tauchte in seiner Erinnerung auf. Astrid, wie sie durch Daria zu ihm gesprochen hatte. Mein Leben war erfüllt. Ein voller Becher, in den kein weiterer Tropfen mehr gepasst hätte.
Und Tessa, die ihm entgegenschleuderte – Ich laufe meinen Wünschen und Zielen seit zweiunddreißig Jahren nach, ohne ihnen auch nur einen Schritt näher zu kommen. Alle meine Entscheidungen waren falsch. Nichts in meinem Leben hat jemals so funktioniert, wie es funktionieren sollte.
Er wünschte, er hätte die Kraft, all das beiseitezuschieben. Aber er konnte nicht. Tessa hatte existiert. Er wusste es, wenn schon sonst niemand. Und er war es, der eine Entscheidung treffen musste.
Astrid zurückzuholen bedeutete, das Glück eines glücklichen Menschen zu potenzieren. Tessa zurückzuholen bedeutete, einer geschunden Seele endlich die Chance auf Glück zu geben.
Er hatte mehr als einmal versagt. Dieses Mal wollte er das Richtige tun. Entschlossen atmete er aus und holte dann tief Luft. „Ich will Tessa.“
Odin schüttelte den Kopf. „Wie gesagt …“
Nick unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Du bist Odin, du kannst das Unmögliche möglich machen.“
„Ich kann nicht die Existenz einer Sterblichen erfinden. Ich kann diese Frau nicht aus dem Nichts in der Weise erschaffen, dass sie genau der Mensch ist, den du kennst. Den du liebst, du
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