Stachel der Erinnerung
würde sie sich an Meldis halten müssen, um an die Besitztümer der Familie zu kommen. Und nach deren derzeitiger Gemütsverfassung würde sich dieses Unterfangen bestimmt mehr als schwierig gestalten.
Dass sie mit dieser Annahme richtig lag, bewahrheitete sich wenig später. Serre kam mit seinem Vater zur Brautwerbung und wurde von Arne freudig empfangen. Auf sein Geheiß hatte sich Meldis ein Festtagskleid übergezogen und bediente Serre und Erik bei Tisch. Sie tat es ohne eine Miene zu verziehen, ohne einmal zu lächeln oder ein Wort zu sagen. Das Geschenk, das ihr Serre vor den Augen aller überreichte – ein Ballen azurblauer Seide – nahm sie mit einem Neigen des Kopfes entgegen, um es sodann achtlos an Tessa weiterzureichen.
Tessa sah die Ader an Serres Schläfe anschwellen und konnte es ihm nicht einmal verübeln. Sie lächelte ihn entschuldigend an und trug den Ballen ins Haus, wo sie ihn sorgfältig in sauberes Leinen wickelte und auf Meldis’ Aussteuertruhe legte. Noch immer war sie mit ihrer Suche nach der Maske nicht den aller kleinsten Schritt weitergekommen.
Sie wollte schon zurück zu den anderen, als Meldis ins Haus stürmte und sich gegen die Wand lehnte. Tessa rechnete mit einem Wutausbruch, aber Meldis schloss die Augen und umklammerte ihre Oberarme. „Ich kann nicht. Ich kann ihn nicht heiraten. Bei dem Gedanken, dass er mich anfasst, muss ich mich übergeben.“
Erstaunt trat Tessa näher. Sie war davon ausgegangen, dass Meldis einfach aus Prinzip gegen die Entscheidung ihres Vaters war. Aber diese Verzweiflung musste einen tieferen Grund haben. „Ach Meldis, so schlimm ist es?“
Eine Träne rann über die Wange des Mädchens. „Sieh ihn doch an, er ist ein Bär, zweimal so groß wie ich. Er kann mich mit einer Hand hochheben, er …“ Schluchzen erstickte ihre Stimme.
Tessa begriff noch immer nicht, was Meldis ihr eigentlich sagen wollte. Also zog sie das Mädchen an sich und strich über den bebenden Rücken. „Schsch ... alles wird gut“, versuchte sie zu trösten.
„Nein … nichts wird gut. Wie kannst du das nur sagen? Er ist genauso jähzornig und hitzköpfig wie sein Vater.“ Sie weinte noch heftiger. „Wenn es ihn überkommt, wird er mich erschlagen. Wie sein Vater seine Mutter erschlagen hat, das weißt du doch. Jeder weiß es, aber alle verschließen die Augen davor. Und jetzt will mich mein Vater so einem geben.“
Diese Neuigkeit raubte Tessa alle Worte. Mechanisch streichelte sie Meldis weiter und versuchte mühsam ihre Fassung wiederzuerlangen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte angenommen, dass Meldis’ Ablehnung auf völlig irrealen Gründen beruhte, auf unerklärlichen Antipathien, aber nicht auf tatsächlichen Vorkommnissen.
Erfolglos versuchte sie in den Tiefen ihrer, also Alvas Erinnerung etwas von dem zu finden, was Meldis angesprochen hatte. Aber da war nichts, nicht einmal der Hauch einer Ahnung. Vielleicht hatte Alva zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Arnes Haushalt gelebt.
„Hanne war so klein wie ich. Und so zart. Erik hat sie mit einem Holzprügel erschlagen.“ Ihre abgehackten Worte wurden von Schluchzen unterbrochen. „Weil sie ihm nicht schnell genug das Bier brachte.“ Ihre Finger krallten sich in Tessas Stoff. „Sie hatte ein lahmes Bein, weil sie kurz nach der Hochzeit unglücklich gefallen war. Gefallen!“ Meldis hob den Kopf und sah Tessa an. „Verstehst du? Verstehst du, was das heißt?“
Tessa wurde eiskalt. Ihr Blut schien zu gefrieren. Natürlich verstand sie und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Meldis …“, stammelte sie hilflos. „Vielleicht weiß dein Vater nicht, dass …“
„Oh, doch, er weiß es. Alle wissen es. Aber er verschließt die Augen davor. Er wollte immer, dass ich Serre zum Mann nehme. Der Wunsch des Jarls kam ihm also mehr als gelegen. Und dem Jarl kann man keinen Wunsch abschlagen.“ Sie atmete tief durch. „Serre ist der einzige Sohn, und mein Vater hat keine männlichen Nachkommen. Wenn Serre mich heiratet, dann fällt ihm nach dem Tod der gesamte Besitz meines Vaters zu. Er vergrößert sein Land auf mehr als das Doppelte.“
Das waren stichhaltige Argumente für die Eltern der beiden, einen Ehevertrag anzustreben. Trotzdem suchte Tessa fieberhaft nach einer Lösung. „Und wenn Serre nicht so ist wie sein Vater?“
Meldis lachte verächtlich. „Du hast seine Wutausbrüche doch auch schon miterlebt. Als er jünger war, hat er einen Wolf, der sich bis ins Dorf gewagt hatte,
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