Stachel der Erinnerung
gerichtet, weil sie jeden größeren Stein durch die dünnen Ledersohlen der mokassinartigen Schuhe spürte. Da ihr Sinn für Abenteuer von je her unterentwickelt war, kam sie gar nicht auf die Idee, der Lage auch positive Seiten abzugewinnen. Meldis dagegen redete fröhlich weiter, und als sie keine Antwort bekam, begann sie Melodien vor sich hinzusummen. Tessa fühlte sich, als wäre sie bei einer Orientierungswanderung der regionalen Pfadfindergruppe. Nur dass es hier keinerlei Orientierung gab.
„Woher weißt du denn überhaupt, dass wir auf dem richtigen Weg sind?“, fragte sie, nachdem sie eine kleine Ewigkeit querfeldein gelaufen waren.
„Dort drüben ist die Straße nach Ravik, Alva, das kannst du doch nicht vergessen haben. Vor zwei Jahren sind wir doch alle zu Solveig gefahren, um den kleinen Sven zu sehen.“ Sie warf Tessa einen ungläubigen Blick zu, die versuchte, so unbefangen wie möglich zu sein. Im Grund hatte sie die Frage eher allgemein gemeint, also ob es irgendwelche markanten Punkte oder Wegweiser gab. Und schon war sie in eine Falle getappt. Sie schlug sich theatralisch an die Stirn. „Ja, natürlich, wie konnte ich das nur vergessen.“
Meldis schüttelte mitleidig den Kopf und summte weiter. Tatsächlich erreichten sie wenig später eine Straße, auf der ihnen Fuhrwerke und reisende Handwerker entgegenkamen. Mittlerweile war es Nachmittag geworden und Tessa fiel zum ersten Mal auf, dass sie, abgesehen von dem Bündel mit Käse und Blaubeeren, keine Wegzehrung mitgenommen hatten. „Hast du keinen Hunger?“, erkundigte sie sich bei Meldis und hoffte gleichzeitig, dass sie damit nicht wieder gegen eine unsichtbare, aber existierende Barriere stieß.
„Ich habe ein paar Münzen vom letzten Markttag gespart, wenn wir keine andere Möglichkeit finden, dann werde ich sie dafür verwenden.“
Tessa interessierte sich brennend für „die andere Möglichkeit“, aber natürlich konnte sie nicht fragen, den Meldis’ Tonfall war zu entnehmen, dass sie wissen musste, wovon die Rede war.
Sie stapfte bis zum Einbruch der Dämmerung weiter und zweifelte immer mehr daran, dass die Sache einen glücklichen Ausgang nehmen würde. Ihr Magen knurrte, ihre Beine schmerzten und sie war zum Umfallen müde.
Als in den letzten Strahlen der Sonne die Silhouette einiger Hausdächer auftauchte, fiel ihr vor Erleichterung ein Stein vom Herzen. Meldis klopfte an die Tür des größten Hauses und erzählte der Frau, die ihr öffnete, eine herzerweichende Geschichte von einer erkrankten Tante, zu der sie auf dem Weg war. Tatsächlich bat die Frau sie herein. Sie durften am Feuer sitzen und vom Eintopf essen, bekamen frische Milch und schließlich auch eine Schlafstelle zugewiesen.
Von der Gastfreundschaft der Nordmänner erzählten zwar Sagas und überlieferte Lieder, aber dass sie so weit reichte, damit hatte Tessa nicht gerechnet. Sie hatte nicht einmal damit gerechnet, dass Meldis überhaupt irgendwo Unterschlupf für die Nacht suchte, sondern erwartet, dass sie entweder die ganze Nacht durchwandern oder dass sie sich mitten im Wald auf dürrem Laub ein Lager bereiten würden. Die Erleichterung mischte sich mit Müdigkeit und bescherte ihr einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen machten sie sich nach einem reichlichen Frühstück wieder auf den Weg. Schon bald holte sie ein Fuhrwerk ein und Meldis fragte den Fahrer ohne Umschweife, ob sie aufsteigen durften. Sie durften und so hatte Tessa Gelegenheit, die Landschaft auf recht bequeme Art genießen zu können. Trotzdem gelang es ihr nicht, sich zu entspannen. Als sie ihre Gastgeberin in den Truhen stöbern gesehen hatte, war ihr eingefallen, dass sie möglicherweise gar nicht in Arnes Haus zurückkehren würde, wenn Meldis Plan tatsächlich funktionierte. Was weiter bedeutete, dass sie dort weder nach der Maske suchen, noch sie finden konnte. Vorausgesetzt, sie befand sich überhaupt in Arnes Haus. Und nicht irgendwo anders …
Tessa rieb ihre schmerzende Stirn.
Sie stolperte und schlug der Länge nach hin. Um sie herum war es dunkel. Verwirrt blieb sie liegen, auf weichem, feuchtem Boden, der nach Moos roch. Erst nach ein paar Herzschlägen überfiel sie eine Woge aus namenloser, übelkeiterregender Angst. Es musste wieder passiert sein. Sie hatte einen Zeitsprung gemacht, aber … wohin?
Ihre Zähne schlugen aufeinander und die Finger gruben sich in das Erdreich vor ihr, als könnte sie so die Realität festhalten. Sie würgte und
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