Stachel der Erinnerung
mit seinen bloßen Händen erwürgt.“ Sie machte sich aus Tessas Umarmung los und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. „Das Fell hängt noch immer in seinem Haus. Und er zeigt es jedem, der ihn besuchen kommt. Genauso, wie er die Geschichte wieder und wieder erzählt. Nur er und der Wolf. Keine Waffen, nur seine riesigen Pranken.“ Ihre Stimme klang wieder fester.
Tessa versuchte klar zu denken. Physische Angst vor Männern kannte sie nicht. Ob das daran lag, dass sie niemals klein und zierlich gewesen war und dank ihres Auftretens nicht in das Beuteschema fiel oder ob es einfach am Umfeld lag, in dem sie sich bewegt hatte, konnte sie nicht sagen. Aber soweit sie sich erinnerte, hatte ein entschiedenes „Nein“ immer genügt, sich unwillkommene Gesellschaft vom Hals zu halten. Und die paar Männer, mit denen sie so etwas Ähnliches wie eine Beziehung auf die Reihe gebracht hatte, vermittelten ihr das Gefühl, ein Mädchen zum Pferdestehlen zu sein, aber keines, das man beschützen musste. Früher, als sie jung war, hatte ihr das geschmeichelt. Selbständig, taff, kein hilfloses Weibchen, das mit tränenfeuchten Wimpern klimperte. Aber je älter sie wurde, desto öfter bekam dieses Kompliment einen bitteren Beigeschmack. Vor allem, da sie merkte, wie schnell andere Frauen mit dem Klimpern von tränenfeuchten Wimpern ihre Ziele erreichen. Berit hatte die Figur des hilflosen Weibchens bis in ihre Fingerspitzen kultiviert, um zu bekommen, was sie wollte. Trotzdem war sie, wenn es darauf ankam, hundertmal härter als Tessa je sein konnte. Berit hätte keine Panikattacke erlitten, wenn sie den Mann, mit dem sie die Nacht verbringen wollte, mit einer anderen erwischt hätte. Vermutlich hätte sie beiden eine geknallt und eine leinwandfähige Szene hingelegt.
Tessa seufzte. Berit und Hendrik. Beinahe hatte sie das Ganze vergessen, weil sie hier andere Dinge in Atem hielten. Sie sollte sich lieber auf die Gegenwart konzentrieren, in der sie gerade lebte. Auf Meldis und ihre Probleme.
Nach dem, was sie von den Gepflogenheiten der Zeit kannte, rechnete sie nicht damit, dass Meldis der Ehe mit Serre entkommen konnte. Ehebünde wurden von den Familien beschlossen, nach praktischen Gesichtspunkten. Alles andere hatte für das Fortbestehen der Gesellschaft keinen Sinn. Männer hielten sich Konkubinen oder Bettsklavinnen, oft sogar im eigenen Haus, während von Ehefrauen Treue verlangt wurde. Inwieweit Meldis mit der Einschätzung von Serres Charakter richtig lag, würde die Zukunft weisen. Auf Grund von Überlieferungen wusste man, dass bei Wikingern eine formlose Scheidung möglich war, aber wie das in der Realität aussah, vermochte Tessa nicht mit Sicherheit zu sagen. Und fragen konnte sie in ihrer derzeitigen Lage auch nicht, ohne aufzufallen.
Meldis warf einen geringschätzigen Blick auf den in Leinen gewickelten Seidenballen auf ihrer Aussteuertruhe, dann wandte sie sich ab und ging wieder zurück zu den Männern vor dem Haus. Tessa folgte ihr nachdenklich. Sie hatte sich über Serre keine Gedanken gemacht, aber jetzt, da sie Meldis Ängste kannte, beobachtete sie ihn genauer.
Allerdings brachte sie das auch zu keinem klaren Bild. Er unterschied sich nicht sonderlich von den anderen Männern, die sich an einem großen Tisch versammelt hatten. Sie lachten laut, tranken abwechselnd Bier und Met, bedienten sich von den Räucherfischen, die Arne auftischen ließ und dem warmen Brot. Fettige Lippen, mit Bierschaum bedeckte Bärte und Finger, die ohne Rücksicht auf Verluste die Fische zerstückelten. Die geballte Wolke Testosteron, die über der Gruppe schwebte, hätte ausgereicht, eine vestalische Jungfrau in einen Zuchtbullen zu verwandeln. Aber sie waren nun einmal Wikinger aus dem Mittelalter und keine metrosexuellen Models aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert. Ihnen vorzuwerfen, zu sein, was sie waren, bedeutete nicht einfach nur Arroganz, sondern auch anachronistisches Denken.
Serre hatte bemerkt, dass sie ihn beobachtete, und warf ihr ein breites Grinsen samt einem vertraulichen Augenzwinkern zu, das ihr prompt das Blut in die Wangen trieb. Hastig wandte sie sich ab und ging ins Haus, um Ingrid beim Brot backen zur Hand zu gehen. Und hoffte gleichzeitig, dass ihre Flucht nicht aussah wie eine Flucht.
zwölf
Am nächsten Vormittag, als Tessa sich mit Meldis um das Vieh kümmerte, nahm das Mädchen sie zur Seite. „Ich habe einen Plan gemacht, damit ich Serre nicht heiraten
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