Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
Vom Netzwerk:
dass ich ihn nicht mag. Er ist kalt und grob und anmaßend“, versuchte Meldis einzuwenden. Ihre sonst so kräftige Stimme hörte sich wie das hilflose Fiepen eines neugeborenen Welpen an.
    „Kindisches Geschwätz. Meldis, es ist Zeit, dass du erwachsen wirst. Serre ist ein guter Mann. Ich freue mich, dass er schon bald zu meiner Familie gehört. Außerdem bist du meine jüngste Tochter, und dass du dein Leben nicht fern von mir verbringen wirst, macht mich glücklich. So kann ich noch meine Kindeskinder auf den Knien schaukeln.“
    „Aber Vater, nur weil Solveig und Ann so weit von uns weg verheiratet wurden, musst du mich doch nicht an den Erstbesten geben.“ Ihre Stimme klang zunehmend verzweifelt. „Ich bin doch erst …“
    „Du bist siebzehn“, unterbrach sie ihr Vater hart. „Nach der Wintersonnenwende wirst du achtzehn. Deine Schwestern waren zu diesem Zeitpunkt schon verheiratet und zumindest guter Hoffnung, wenn sie nicht schon überhaupt ein Kind geboren hatten.“ Er machte eine endgültige Handbewegung. „Ich will nichts mehr hören. Ich war lange genug nachsichtig mit dir. Die Sache ist mit Erik besprochen und wird morgen bekannt gegeben werden. Das ist mein letztes Wort.“
    Er wandte sich ab und stapfte davon, ohne sich weiter um Meldis zu kümmern. Tessa sah sie beklommen an. Zwar war ihr bekannt gewesen, dass bei den Wikingern – wie bei den meisten Völkern dieser Zeit – die Familien die Ehebünde schlossen, aber was das wirklich bedeutete, wurde ihr erst angesichts der spürbaren Verzweiflung von Meldis bewusst.
    „Ich will ihn nicht haben. Eher bringe ich mich um, als diesen rohen Klotz zum Mann zu nehmen.“ Sie sprach leise und entschlossen. Und das machte Tessa größere Angst, als wenn sie trotzig mit dem Fuß aufgestampft hätte.
    Unbewusst blickte sie sich um, ob sich Serre irgendwo in der Nähe herumtrieb. Doch obwohl sie fest damit gerechnet hatte, dass er sie von einer dunklen Ecke aus beobachtete und sich voller Triumph die Hände rieb, war er nirgends zu entdecken.
    „Trotzdem, ich lasse mir das Fest nicht verderben. Komm, suchen wir uns einen guten Platz.“ Mit hoch erhobenem Kopf schritt Meldis durch die Menge und setzte sich hoheitsvoll auf einen Platz nahe dem Podium.
    Sie blieb den ganzen Abend lang starr und angespannt. Jede ihrer Bewegungen, ihr Lächeln, ihre Gesten, wirkten hölzern, ohne innere Anteilnahme. Schon nach kurzer Zeit stand sie wieder auf und ging zu ihrer Mutter. Nach einem knappen Wortwechsel gingen die beiden Frauen zu einem der Häuser und Tessa folgte ihnen, ohne zu wissen, ob sie das Richtige tat. Aber man ließ sie ihr Lager in einer Ecke des Hauses aufschlagen, und obwohl sie sich bemühte, verstand sie nichts von dem, was Mutter und Tochter miteinander flüsterten. Irgendwann schlief sie ein, bis laute Schreie sie wieder weckten. Erschrocken richtete sie sich auf. Auch die anderen Frauen, die im Raum geschlafen hatten, erhoben sich gähnend. Eine von ihnen ging zu Tür und öffnete sie. Dann fing sie ebenfalls an zu schreien.
    Die anderen Frauen liefen zu ihr und drängten sie zur Seite. Auch Tessa quetschte sich dazwischen und das, was sie sah, nahm ihr den Atem. Der Himmel leuchtete orangerot, über die Hausdächer zogen dicke Rauchschwaden. Sie lief mit der Menge zu den Klippen und starrte auf das Bild, das sich ihr bot. Auf dem Meer trieben brennende Schiffe. Die genaue Zahl war schwer zu schätzen, vielleicht fünfzehn oder zwanzig. Auch die hölzernen Stege brannten. Verkohlte Holzstücke schwammen auf den Wellen und schlugen an die Klippen, von denen Tessa aufs Wasser blickte.
    „Wer hat das getan?“, murmelte sie mehr zu sich selbst, als zu den Umstehenden.
    „Der Landaujarl. Er hat die Gastfreundschaft missbraucht und bei Nacht und Nebel die Frau unseres Jarls entführt. Damit ihm niemand folgen kann, haben seine Leute die gesamte Flotte in Brand gesteckt“, sagte eine alte Frau neben ihr. Über ihre runzeligen Wangen rannen Tränen.
    Tessa suchte in der Menge nach Meldis und kämpfte sich zu ihr durch. „Ist das wahr? Die Frau des Jarls wurde entführt?“, fragte sie atemlos.
    Meldis nickte. „Vater ist bei den Männern unten im Hafen. Sie beratschlagen, was zu tun ist. Aber die Möglichkeiten sind beschränkt.“ Sie machte eine Pause. „Sie haben nicht nur die gesamte Flotte vernichtet, sie haben auch die Pferde abgeschlachtet.“
     
    Die Frauen machten den restlichen Tag lang einen Bogen um die Männer, die sich auf

Weitere Kostenlose Bücher