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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Henz
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muss.“
    Tessa ließ sich widerstrebend in eine Ecke des Stalles ziehen. Gestern hatte es so ausgesehen, als wäre Meldis letztlich doch noch mit der Heirat einverstanden gewesen. Sie hatte sich kurz zwischen Serre und ihren Vater gesetzt, mit ihrem Verlobten ein paar Worte gewechselt und ihm schließlich für seinen Besuch und das Geschenk gedankt. Dabei lag ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen und sie ließ es zu, dass Serre ihre Hand ein paar Momente lang festhielt.
    Insgeheim hatte Tessa aufgeatmet, aber ihre Freude war wohl verfrüht gewesen.
    „Ich werde Hedda besuchen, gleich morgen. Mutter hat sicher nichts dagegen, schließlich war sie bis zu ihrer Hochzeit meine beste Freundin. Du wirst mich begleiten. Ich werde Mutter sagen, dass ich drei, vier Tage bei ihr bleiben möchte, damit ich sehen kann, wie eine junge Ehefrau wirtschaftet. Das gibt uns knapp sechs Tage Vorsprung.“ Triumphierend blickte Meldis Tessa an, deren Nackenhaare sich unaufhaltsam aufzurichten begannen. Ohne etwas davon zu bemerken, redete Meldis weiter. „In Wirklichkeit aber gehen wir nach Süden, nach Forsanger, zu meiner Schwester Solveig. Sie wird mich aufnehmen und sie wird mich nicht an Serre rausgeben, das weiß ich ganz genau. Sie hält genauso wenig von ihm wie ich und sie hat keine Angst vor Vater. Und Solveigs Mann ist bestimmt auf ihrer Seite. Die beiden werden mir Zuflucht gewähren, bis sich Serre eine andere Frau gesucht hat.“
    Tessa versuchte, das Gehörte zu verdauen. „Wie … lange brauchen wir bis zu Solveig?“ Das war das Erste, was ihr einfiel, denn bei dem Gedanken, querfeldein ins Nichts zu marschieren ohne Karte oder Navigationssystem war ein Panikanfall unvermeidbar.
    „Vier Tage, wenn uns ein Fuhrwerk mitnimmt, vielleicht sogar nur drei“, antwortete Meldis unbekümmert. „Es ist noch lange warm, also haben wir überhaupt kein Problem.“
    Tessa versuchte, nicht hysterisch zu lachen. Kein Problem. Mit dem Mut der Verzweiflung brachte sie heraus: „Und wenn ich nicht mitgehen möchte?“
    Meldis hob die Brauen. „Du scherzt, Alva. Oder du hast deine eigentliche Stellung vergessen, weil ich mich nicht daran halte, dich so zu behandeln, wie ich es im Grunde tun sollte? Du gehörst mir. Vater hat dich mir zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt, falls du das vergessen haben solltest. Ich bestimme, was du tust und wohin du gehst. Und du gehst dorthin, wo ich hingehe.“
    Tessa schluckte. Etwas in dieser Art hatte sie bereits vermutet. Alva war einige Jahre älter als Meldis, das jüngste Kind von Arne und Zora. Eine verwöhnte Prinzessin, die bekam, was immer sie wollte. Nur bei der geplanten Hochzeit ließ ihr Vater vermutlich zum ersten Mal nicht mit sich reden.
    „Und du schuldest mir Loyalität und Gehorsam, nicht meinen Eltern, damit auch das klar ist.“ Mit diesen Worten machte sie Tessas unausgesprochene Idee, sich an Arne zu wenden, zunichte.
    Beim Abendessen unterbreitete Meldis ihren Eltern den Vorschlag, Hedda zu besuchen, die seit sieben Monaten mit einem Mann aus dem Nachbardorf verheiratet war, um sich aus erster Hand über die Pflichten einer Ehefrau zu informieren.
    Ihre Mutter schien erleichtert, dass Meldis doch noch zur Vernunft gekommen war und versprach, etwas Käse und getrocknete Blaubeeren als Gastgeschenk vorzubereiten.
    Auch ihr Vater lobte diesen Einfall und trug ihr auf, Hedda samt ihrem Ehemann zur Hochzeit einzuladen. Meldis lächelte süß – so süß, dass Tessa davon Zahnschmerzen bekam und bedankte sich artig.
    Während der Nacht bekam Tessa kein Auge zu. Sie überlegte, ob sie Fieber, Übelkeit oder ein verstauchtes Bein simulieren sollte, um den Plan zu vereiteln. Aber da sie nicht sicher war, ob Meldis in diesem Fall nicht einfach alleine losziehen würde, verwarf sie dieses Vorhaben wieder. Obwohl es lächerlich war, fühlte sie sich für das Mädchen verantwortlich. Lächerlich in doppelter Hinsicht – erstens hatte sie von den in dieser Zeit real existierenden Gefahren keine Ahnung und zweitens wusste sie ja nicht, was sie gegen diese Gefahren ausrichten sollte.
    Dementsprechend schweigsam war sie bei der Verabschiedung am nächsten Morgen. Meldis dagegen plapperte munter drauf los, log, dass sich die Balken bogen, und das, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie herzte und drückte ihre Mutter, zog ihren Vater scherzhaft am Bart und winkte ihnen noch ein paar Mal zu.
    Tessa trug das Bündel mit dem Käse und den Blaubeeren. Sie hielt den Blick auf den Boden

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