Stachel der Erinnerung
schon, wie das Fest weitergehen würde, sobald sich diese zurückgezogen hatten. Unauffällig begann sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit umzusehen und vermied es im Gegensatz zu ihren unmittelbaren Tischnachbarinnen, dem Bier allzu sehr zuzusprechen.
Vielleicht konnte sie sich in einem der Ställe verbergen, ehe es zum Äußersten kam. Oder machte sie sich etwa völlig umsonst Sorgen, weil sie Meldis’ persönliche Sklavin und damit unberührbar war? Aber wollte sie es darauf ankommen lassen?
Sie wollte nicht. Als sie den Zeitpunkt für gekommen hielt, stand sie auf und schlenderte zu den Häusern. Dabei überzeugte sie sich unauffällig, dass ihr niemand folgte. Der Platz der Feier wurde zwar mit Fackeln beleuchtet, aber an den Hauswänden gab es nur hie und da eine Talgfunzel unter einem Glassturz. Tessa tastete sich vorwärts. Die Situation machte ihr Angst, und sie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Sklaven hatten keine Rechte. Sie waren ein Ding, ein Besitzstück, nichts weiter. Arne würde sich nicht darum kümmern, wenn jemand sie schlug oder vergewaltigte. Nur wenn ihre Arbeitskraft darunter litt, konnte er Schadenersatz verlangen, weil sein Besitz beschädigt worden war. Sie selbst als Individuum zählte nichts. Auf jeden Fall aber weniger als ein Pferd oder ein Schwein. Und nachdem es nicht danach aussah, als würde sie innerhalb der nächsten Minuten zurück in ihre Zeit gelangen, war Vorsicht durchaus angebracht.
Der Lärm vom Festplatz wurde leiser. Tessa stieß eine Tür auf, die unter dem Druck ihrer Hände nachgab. Im Inneren war es warm und dunkel und es stank nach Vieh. Erleichtert wollte sie hineinhuschen, aber jemand packte sie am Handgelenk und hielt sie fest. „Wohin des Weges, du freches Ding?“
elf
„Bei Thor, was bin ich froh, dass das Fest heute Abend zu Ende ist.“
Tessa blinzelte verwirrt und nahm automatisch den Kamm, den ihr Meldis hinhielt. Sie wusste nicht, was geschehen war. Gerade noch hatte sie sich in eine Scheune flüchten wollen, und jetzt … jetzt stand sie im hellen Tageslicht vor einem Haus.
„Träumst du wieder, Alva?“ Meldis’ Stimme klang ungeduldig. „Oder bist du auch froh, wenn wir wieder zu Hause sind?“
Hastig nickte Tessa. „Ja, die vielen Menschen und der Trubel, das ist alles so anstrengend.“ Erleichtert, einen Strohhalm gefunden zu haben, der als Antwort taugte, kämmte sie das seidige Haar und steckte es mit den Nadeln und Klammern hoch.
Der letzte Tag des Festes. Das bedeutete, dass in ihrer Erinnerung eineinhalb Tage fehlten. Wie zum Teufel war das möglich? Wer hatte sie am Arm gepackt? Und was war danach geschehen? Hatte sie in der Scheune Zuflucht gefunden? Ihr Leben glitt ihr mehr und mehr aus den Händen. Und weit und breit keine Chance, die Dinge richtig zu rücken. Wieder ins 21. Jahrhundert zurückzukehren.
Schon wollte Panik in ihr aufsteigen, aber Meldis ließ ihr keine Zeit dazu. „Komm, wir müssen uns beeilen, der Skalde wird zum Abschied etwas ganz Besonderes vortragen. Und ich will so weit vorne sitzen, wie es nur geht, damit ich nichts verpasse.“
Sie raffte ihr Gewand und eilte an den Häusern vorbei zum Festplatz. Tessa hatte Mühe, ihr zu folgen. Doch noch bevor sie dort ankamen, vertrat ihnen Arne den Weg. „Ich habe dich gesucht, Tochter.“
Meldis wollte an ihm vorbei und sagte barsch: „Nicht jetzt, Vater, sonst sind die besten Plätze besetzt.“
Unerschütterlich blockierte Arne ihren Weg. „Es gibt eine Neuigkeit. Ich hatte ein Gespräch mit dem Jarl. Sobald sein Gast abgereist ist, wird es allen kundgetan werden.“
„Später, Vater, ich bitte dich.“ Sie wollte um den großen, stattlichen Mann herumgehen, aber er ließ es nicht zu.
„Unser Jarl hat beschlossen, dich zu verheiraten.“
Dieser Satz tat seine Wirkung. Meldis blieb stehen wie vom Blitz getroffen. „Nein, Vater, nein. Sag nicht …“
„Serre Eriksson ist dein auserwählter Ehemann. Eine Verbindung, die auch meine Billigung findet. Schließlich grenzen unsere Ländereien aneinander. Das Brautgeld ist gut angelegt und natürlich freue ich mich, dem Jarl mit meiner Einwilligung in seine Brautwerbung einen Gefallen zu erweisen.“
Meldis war bei diesen Worten kalkweiß geworden.
„Serre ist jung und stark. Er wird dir ein guter Ehemann sein und du wirst ihm viele gesunde Söhne schenken.“ Arne schien durch und durch zufrieden. Die abrupte Veränderung im Verhalten seiner Tochter fiel ihm nicht auf.
„Du weißt,
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