Stachel der Erinnerung
dem Festplatz versammelt hatten und lautstark beratschlagten, was zu tun wäre. Das restliche Bier blieb nicht lange in den Fässern und die Luft erzitterte von den ausgestoßenen Flüchen, Verwünschungen und Rachedrohungen.
Tessa hielt sich an Meldis, deren Laune im selben Ausmaß stieg, wie die Verhandlungen der Männer andauerten. Sie machte auch kein Hehl daraus, warum sie so vergnügt war. „Denk doch nach, Alva. Sie werden in den Süden ziehen, um Rache zu nehmen. Der Winter steht bevor und über den Landweg werden sie Monate dazu brauchen, bis sie in Landau sind. Dort müssen sie die Anschuldigungen beweisen. Ein Gericht einberufen. Recht bekommen. Oder auch nicht. Und dann kehren sie wieder zurück. Das dauert Jahre!“ Sie lachte und drehte sich im Kreis. Tessa musterte sie, ohne zu verstehen, was die Ursache für ihre Fröhlichkeit war.
Meldis griff nach ihren Händen. „Alva, verstehst du denn nicht? Serre wird weggehen, und ich muss ihn nicht heiraten. Wer weiß, ob er überhaupt lebend zurückkommt!“
Diese Gefühlskälte stieß Tessa ab. Sie verstand zwar, dass Meldis erleichtert darüber war, der Heirat zu entkommen. Aber dafür mit dem Tod eines anderen zu spekulieren, erschien ihr frivol. Obwohl der Tod hier natürlich viel gegenwärtiger und das Leben viel gefährlicher war als in ihrer Zeit. Eine Missernte, ein harter Winter, ein niedergebranntes Haus – viel mehr brauchte es nicht, um in unmittelbarer Lebensgefahr zu schweben.
Sie rang sich ein Lächeln ab. „Daran habe ich nicht gedacht. Aber möglicherweise hast du recht.“
„Natürlich habe ich recht.“ Meldis strahlte übers ganze Gesicht.
Ihre Freude dauerte gerade einen Tag. Dann gab der Jarl bekannt, dass er beschlossen hatte, nicht über Land nach Süden zu ziehen, sondern dass man sofort daran gehen würde, ein neues Schiff zu bauen. Mit den ersten warmen Winden sollte es möglich sein, zu segeln. Es verstand sich wohl von selbst, dass sich alle Bootsbauer am Jarlhof einfinden sollten, ebenso, dass sich die Männer aus der näheren und ferneren Umgebung daran machen sollten, im Wald die geeigneten Stämme zu schlagen. Er rechne nicht damit, dass man seiner geliebten Hilda etwas antun werde, sondern dass es um Lösegeldforderungen ging. Der Landaujarl schien von den Reichtümern hier stark beeindruckt gewesen zu sein. Natürlich werde man kein Gold oder Silber geben, sondern den König von dem ungeheuren Vorkommnis benachrichtigen und sich auf seinen Rechtsspruch verlassen. Dafür genügte ein Bote. Ein Mann, der nach Süden ritt, sobald man irgendwo ein Pferd ausfindig gemacht hatte. Und wenn der König in seiner Weisheit irrte, dann könne man immer noch der Gerechtigkeit mit den Schwertern zu Recht verhelfen.
Im gleichen Atemzug mit dieser Mitteilung verkündete er auch, dass Serre Erikson und Meldis Arnedottir als Eheleute zusammengegeben werden würden, gleich nach dem nächsten Thing.
Diese Mitteilung wurde mit freudigem Gejohle quittiert. Eine Hochzeitsfeier versprach Ablenkung und Kurzweil in tristen Zeiten wie diesen.
Serre selbst hatte sich noch immer nicht blicken lassen, wie Tessa insgeheim feststellte. Meldis legte nur mehr schlechte Laune an den Tag und ließ ihre Umwelt an ihren Gefühlen rege teilhaben. Nachdem die Männer mit dem Jarl das weitere Vorgehen festgelegt hatten, machten sie sich mit ihren Familien wieder auf die Heimreise. Die Stelle der Pferde nahmen männliche Sklaven ein, die die Fuhrwerke über die unbefestigten Straßen ziehen mussten, während alle, die nicht lahm waren, nebenher gingen.
Meldis brütete vor sich hin und auch Tessa ließ ihre Gedanken schweifen. Wie sollte sie es nur anstellen, wieder zurückzukommen? Vielleicht war die Maske der Schlüssel. Vielleicht brauchte sie nur diese Maske zu finden, durchzuschauen und schon war sie wieder im 21. Jahrhundert auf Bjørendahl. Angesichts ihrer „Anreise“ nicht unlogisch. Und die Maske musste in einem Zusammenhang mit diesen Menschen hier stehen, denn immerhin hatte sie sie ja exakt hierher geführt und nicht irgendwo anders hin. Es musste eine Verbindung geben. Die Maske musste sich hier, in ihrer unmittelbaren Umgebung befinden.
Sobald sie in Arnes Haus war, würde sie die Suche danach beginnen. Unauffällig natürlich, schließlich stand es ihr als Sklavin nicht zu, die Truhen zu durchwühlen. Außerdem trug Zora in ihrer Eigenschaft als Frau des Hauses alle Schlüssel an ihrem Gürtel.
Tessa seufzte. Wohl oder übel
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