Stachel der Erinnerung
„Ich bin Nicolas Dayton, Empfangschef, Frühstückskoch, Zimmermädchen und Hauselektriker.“
Statt einer Antwort griff Tessa nach dem größten Porzellanbecher und füllte ihn mit Kaffee. Glücklich hielt sie ihn mit beiden Händen fest und sog den Duft ein. Augenblicklich ging es ihr besser.
Der Mann füllte die zweite Kanne mit kochendem Wasser. „War Ihr Vater Heinrich Wernhardt?“
Überrascht sah ihn Tessa an. „Ja, in der Tat. Kannten Sie ihn etwa?“
„Drüben im Bücherregal stehen drei Bücher von ihm. Hat wohl jemand vergessen. Deshalb kam mir Ihr Name auch bekannt vor, als Berit ihn erwähnte.“ Er zog das Geschirrtuch aus dem Bund seiner Jeans und wischte über die glatte Oberfläche der Anrichte. An der rechten Hemdmanschette fehlte der Knopf und seine Hände hatten die für einen Holz fällenden Yeti passenden Dimensionen.
Tessa wandte den Blick ab und ging zurück zu ihrem Platz. Dass man sogar hier den Namen ihres Vaters kannte, war zwar erstaunlich, aber keine wirkliche Überraschung. Heinrich Wernstadt hatte zu seinen Lebzeiten als unantastbare Instanz für skaldische Dichtung gegolten. In Norwegen und Island war sein Name allgemein bekannt, mehr noch als in deutschen Fachkreisen, zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktorate bewiesen das. Nur den Nobelpreis hatte er nie erhalten und diese Tatsache beklagte er noch auf dem Totenbett.
Schon bevor sie ihr Studium begonnen hatte, war ihr klar gewesen, dass sie immer an ihm gemessen werden würde, auch wenn sie sich letztendlich auf die Geschichte der Wikinger und nicht auf Skaldendichtung spezialisiert hatte. Noch jeder ihrer Professoren, ob in Deutschland, in Norwegen oder in den USA, hatte voller Ergriffenheit nach ihrem Vater gefragt. Sie hatte versucht, diese Tatsache nicht an sich herankommen zu lassen, sie hatte versucht, zu ignorieren, wie groß die Fußstapfen waren, denen sie folgte, und erst viel zu spät erkannt, dass sie darin versank.
Mit eckigen Bewegungen rührte sie Zucker in den Kaffee. Sie würde sich den Tag nicht durch den Gedanken an ihren Vater kaputtmachen lassen. Das war eines der Themen, die endgültig und für alle Zeit erledigt waren.
„Guten Morgen“, rief Berit vom anderen Ende des Raums und kam, sichtlich gut gelaunt, zu ihr herüber. „Ist ja unglaublich, noch nicht mal halb neun und das Frühstück ist fertig“, stellte sie nach einem Blick auf die Anrichte fest und setzte sich. „Gut geschlafen?“
Tessa nickte.
„Und den Hausdrachen hast du ja auch schon kennengelernt. Hi, Mr. Dayton!“ Sie wedelte übertrieben enthusiastisch mit der Hand. „Bananas or no bananas, that’s the question.“
Er kippte Brötchen von einem Backblech in den großen Korb und drehte sich nicht einmal um. „No bananas.“
„Sie haben es versprochen.“ Berit zog eine Schnute. „Joghurt?“
„Kein Joghurt.“
Berit sprang auf und marschierte zur Anrichte. „Ihr Saftladen ist unter aller Sau“, beschwerte sie sich. „Heute Morgen gab es kein warmes Wasser in meinem Bad.“
„Es steht Ihnen jederzeit frei, diesen Saftladen zu verlassen, Ma’am.“ Er zog das Wort in die Länge und deutete eine Verbeugung an. „Niemand wäre darüber erleichterter als ich.“
Damit ließ er Berit stehen und ging zurück in die Küche.
Tessa, die den Disput mangels anderer Unterhaltung verfolgt hatte, sah wie Berit Schinken und Käse auf einen Teller häufte und zwei Brötchen dazu legte. Gemeinsam mit einer Tasse Kaffee balancierte sie ihn zurück an den Tisch.
„Scheiß Ami, warum glauben die immer, dass ihnen die Welt gehört, ganz egal wo sie sich gerade befinden“, schimpfte sie so laut, dass man sie ohne Weiteres auch auf dem Parkplatz vor dem Haus hören konnte.
„Er ist Amerikaner?“, fragte Tessa überrascht. Der Mann sah nicht nur aus wie ein waschechter Skandinavier, er hatte mit ihr auch akzentfrei norwegisch gesprochen.
„Na klar, Dayton – sagt doch alles. Und wenn er sauer ist, nennt er mich Ma’am.“ Sie biss in das Brötchen. „Er nennt mich oft Ma’am, wirst schon sehen.“
„Einen wunderschönen Morgen, meine Damen.“ Hendrik stand mit breitem Lächeln vor ihnen. Das gelbe TShirt hatte er mit einem roten vertauscht und sein Haar glänzte feucht. Er warf einen trägen Schlafzimmerblick in die Runde und wandte sich dann zur Anrichte.
Seine Jeans saßen so eng wie gestern, und erst als sich Berit räusperte, merkte Tessa, dass sie ihm nachgeschaut hatte. Schuldbewusst starrte sie in ihren
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