Stachel der Erinnerung
auf einmal
zehn Jahre jünger aussah. »Es wird nicht mehr lange dauern. Vielleicht können
wir in den nächsten Wochen unseren Aufenthalt hier endlich ein wenig genießen.
Wenn Matthew dann erst mal hier ist, werden wir alle zusammen nach Hause
fahren.«
»Ja ...«,
stimmte Jessie sehnsüchtig zu. »Zusammen.« Und diesmal würde sie die Frau sein,
die er sich immer gewünscht hatte. Diesmal werde ich dafür sorgen, daß er
mich liebt. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, als hätte sie wirklich
eine Chance, als wäre die Vergangenheit endlich vorüber und sie könnten
gemeinsam einen neuen Anfang wagen. Jessie lächelte genauso befreit wie Papa
Reggie.
Wegen eines bevorstehenden Sturms waren
die Straßen von London an diesem Morgen nicht so überfüllt wie sonst. Nur wenige
Kutschen rollten über die gepflasterten Straßen. Die Bettler duckten sich in
die Hauseingänge. Sogar die Taschendiebe suchten Schutz vor der Kälte und dem
beginnenden Regen.
Lady
Caroline Winston schien die Kälte nichts auszumachen. Sie stieg aus ihrem
glänzenden schwarzen Phaeton, der an der Ecke der Bow Street angehalten hatte,
zog den mit Pelz besetzten Mantel enger um sich und betrat das dreistöckige
Haus, in dem das Büro von Willis G. McMullen lag.
»Guten
Morgen, Mylady.«
»Guten
Morgen, Mr. McMullen.« Das Büro war nicht ganz so unaufgeräumt wie beim letzten
Mal. Caroline setzte sich auf einen Stuhl vor dem mit Papieren überhäuften
Schreibtisch des untersetzten Mannes. »Ich habe in der letzten Woche Ihre
Nachricht erhalten. Ich hatte nicht damit gerechnet, so schnell in die Stadt
zurückzukehren, doch mein Vater hat Freunde in der Marine Seiner Majestät. Wir
sind zu der Siegesfeier gekommen. Und natürlich auch zur Beerdigung von Lord
Nelson.«
»Natürlich.«
Der Mann fingerte in dem Papierwust auf seinem Schreibtisch und zog eine Akte
hervor, die voller Kaffeeflecken war. Er öffnete sie, überflog den Inhalt und
reichte dann alles Caroline. »Ich denke, Ihr werdet all die Informationen dort
finden, nach denen Ihr gesucht habt.«
Lange Zeit
saß Caroline nur da und las. Ihre Augen wurden vor Erstaunen immer größer, ihr
Herz schlug immer schneller. »Gütiger Himmel ...«
»Ganz
genau, Mylady.«
»Lieber
Gott, das ist ja ungeheuerlich – diese Frau ist nichts Besseres als eine
gewöhnliche Schlampe.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Mein armer, lieber
Matthew. Irgendwie muß sie ihn hinters Licht geführt haben.«
»Die Leute
in Bucklers Haven ... sie behaupten, Jessica Fox sei schon immer ein schlaues
Mädchen gewesen. Sie war von schnellem Verstand, doch noch schneller, wenn es
darum ging, einem Mann die Börse zu stehlen.«
»Gütiger
Gott, das Mädchen ist auch noch eine Diebin?«
»War Mylady. Wenn Ihr weiterlest, werdet
Ihr feststellen, daß sie die hochgeachtete Akademie von Mrs. Seymour besucht
hat, genau, wie sie es behauptet hat. Sie war eine der besten Schülerinnen
dieser Schule.«
Caroline
runzelte die Stirn. »Ein Dieb ist ein Dieb, Mr. McMullen. Ein solcher Mensch
ändert sich nur sehr selten.«
»Einige schon«, widersprach er.
»Ja ... nun
ja, das ist jetzt auch nicht mehr so wichtig. Ihr habt Eure Aufgabe erfüllt.
Ich habe all die Informationen, die ich brauche, und schon sehr bald wird Gräfin
von Strickland ihre gerechte Strafe bekommen.«
McMullen
schwieg. Er saß nur da und starrte auf die Akte, die Caroline fest an ihre
Brust gepreßt hatte.
»Danke, Mr.
McMullen. Ich werde Euch gleich morgen früh einen Wechsel auf meine Bank
zukommen lassen.«
Er nickte
stumm.
»Und ich
werde Euch mit Freuden jedem anderen empfehlen, der Eure Dienste in Anspruch
nehmen möchte.«
Doch in
diesem Augenblick, als Willis McMullen an die wunderschöne, gebildete junge
Frau dachte, die aus der armen kleinen Jessie Fox geworden war – und daran, was
Lady Caroline Winston mit dem Ergebnis seiner Untersuchungen anfangen würde,
war er gar nicht so sicher, daß er auf diesem Gebiet weiterarbeiten wollte.
Matthew
lief unruhig auf dem Deck des Schoners Discovery auf und ab, der auf das
ferne London zusegelte. Statt schon am gestrigen
Morgen in London anzukommen, wie es geplant war, würden sie erst einige Stunden
nach der Abenddämmerung Anker werfen. Eine rauhe See und ein stetiger Wind von
vorn hatten ihre Reise um zwei Tage verlängert.
Jetzt
würden er und vier andere Offiziere, die mit ihm zusammen aus Trafalgar nach
London zurückkehrten, gleich zu der Siegesfeier ins Pantheon in der
Weitere Kostenlose Bücher