Stachel der Erinnerung
erfüllten ihn, wie sie über etwas lachte, das er gesagt hatte. Jessie,
die ohne Rücksicht auf Verluste losgeritten war, um einem Baby auf die Welt zu
helfen. Jessie, wie sie in dem Feuer ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um ihn
zu retten. Jessie in ihrer Treue zu ihren Freunden. Er sah, wie sie ausgesehen
hatte, als sie ihm sagte, daß sie ihn liebte.
»Jessie
...«, flüsterte er und kämpfte gegen die Ohnmacht, die Traurigkeit und die
ungewohnten Tränen, die in seinen Augen brannten. Jessie ... Wenn er
doch nur noch einmal von vorn beginnen könnte. Wenn er doch nur ... Seine
letzten Gedanken galten Jessie, ehe das Krachen der Kanonenschüsse verhallte
und die Dunkelheit Matthew mitnahm.
Jessie saß neben Sarah im
Frühstückszimmer, gegenüber von Papa Reggie. Ein kalter Wind fuhr durch die
Bäume draußen vor dem
Fenster, dicke graue Wolkenstanden am Himmel. Die London Times lag offen
auf dem Tisch zwischen ihnen, die fetten Schlagzeilen verkündeten: »Schlacht
von Trafalgar«, »Eroberung der französischen und spanischen Flotte, Tod von Admiral
Nelson«. Es war der siebte November. Die ersten Nachrichten von der Schlacht
hatten London erreicht.
»Wie lange
...« Jessies Stimme klang brüchig. Sie hielt inne, räusperte sich und versuchte
es noch einmal. »Wie lange, glaubst du, wird es dauern, ehe wir Neuigkeiten von
Matthew bekommen?«
Papa Reggie
beugte sich in seinem Stuhl vor. Sein schneeweißes Haar war immer noch voll,
doch sein Gesicht war elend von Kummer und Sorge. »Nicht lange, nehme ich an.
Die ersten Botschafter sind eingetroffen, andere werden ihnen folgen.« Er
lächelte müde. »Wir müssen optimistisch bleiben. Hier steht, daß die englischen
Verluste zehn zu eins waren. Es besteht eine gute Chance, daß Matthew in
Sicherheit ist.«
»Natürlich
ist er in Sicherheit«, behauptete Jessie. Sie schluckte und vermied es, Papa
Reggie anzusehen. »Ich würde es wissen – hier drinnen.« Sie legte die Hand auf
ihr Herz. »Ich würde wissen, wenn es nicht so wäre.«
»Daran
zweifle ich nicht«, stimmte der Marquis ihr zu. Aber die Sorgenfalten in seinem
Gesicht glätteten sich nicht.
Es dauerte
weitere drei Tage, ehe endlich eine Nachricht eintraf. Jessie las Sarah gerade
etwas vor, als Ozzie an der Tür des Salons erschien. »Ein Kurier, Mylady. Von
der Marine Seiner Majestät.«
Alle Farbe
wich aus ihrem Gesicht. »Ich ...ich komme sofort.«
»Ist das
Papa?« fragte Sarah. »Ist Papa nach Hause gekommen?
»Nein, mein
Schatz, noch nicht.« Jessie gab ihr einen Kuß und verließ schnell das Zimmer.
Ein kräftiger, rothaariger Sergeant stand in der Eingangshalle und hielt einen
versiegelten Brief in der Hand. Der Marquis kam dazu, als der Mann ihr die
Nachricht überreichte.
Jessie
leckte sich über die Lippen, ihr Hals war auf einmal völlig ausgetrocknet. Ihre
Hände zitterten so sehr, daß sie das Siegel nicht aufbrechen konnte. Papa
Reggie legte ihr eine Hand auf die Schulter, nahm ihr den Brief aus der Hand,
brach das Siegel und begann zu lesen.
»Der Brief
ist von Admiral Dunhaven.«
»Oh, lieber
Gott ...« Jessies Augen brannten.
Lange
Sekunden vergingen, dann lächelte Papa Reggie. »Er ist verletzt – doch der
Admiral schreibt, er ist schon auf dem Weg der Besserung.«
Jessies
Beine drohten ihr den Dienst zu versagen. »Er lebt ... oh, Gott sei Dank.«
»Hier
steht, daß er am Ende des Monats direkt nach London zurückkehrt, in
Gesellschaft von Admiral Dunhaven. Es wird eine Siegesfeier geben, und einige
der Offiziere werden extra dafür nach London kommen. Sie werden auch bei der
Beerdigung von Admiral Lord Nelson dabeisein. Dunhaven ist der Meinung, daß
Matthew bis dahin wieder ganz gesund ist.«
Jessie
brach in ein sehr undamenhaftes Jubelgeschrei aus, bei dem Sarah neugierig
angelaufen kam und sie unsicher ansah. Jessie strahlte. »Es ist alles in
Ordnung, meine Süße. In dem Brief steht, daß Papa bald nach Hause kommt.« Der
besorgte Blick des kleinen Mädchens verwandelte sich in ein helles Lächeln. Sie
nannte Jessie mittlerweile »Mama« und den Marquis »Großpapa«.
Jessie ging
zu ihr, nahm sie auf den Arm und setzte sie sich auf die Hüfte. »Ich hatte
gehofft, daß wir jetzt nach Hause fahren könnten, nachdem wir wissen, daß
Matthew in Sicherheit ist. Aber wenn er nach London kommt ...«
»Dann
werden wir natürlich in der Stadt bleiben müssen«, beendete der Marquis den
Satz für sie. Er lächelte, und Jessie hätte schwören können, daß er
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