Stachelzart
Bäume. Ich stülpte mir die Kapuze über den Kopf und stieg entschlossen aus.
„Anna, warte!“ Vera hatte sich ihre Arbeitstasche umgehängt und setzte vorsichtig ihre Fellstiefel-Füße auf den Boden. „Igitt, ist das widerlich! Meine schönen neuen Schuhe! Die kann ich hiernach bestimmt wegschmeißen. Hoffentlich lohnt sich der ganze Ärger wenigstens. Jetzt muss der Einsiedler auf jeden Fall verkaufen, nach den Strapazen, die ich deshalb habe!“
Ich bezweifelte, dass Veras Schuhe irgendeinen Einfluss auf eine mögliche Verkaufsentscheidung haben würden, aber ich blieb stehen, damit sie zu mir aufschließen konnte.
Zum Glück hatte der Regen ein wenig nachgelassen, so dass wir wenigstens freie Sicht hatten und nicht sofort völlig durchnässt wurden. Angenehm wurde unsere kleine Wanderung dennoch nicht. Ich hielt mich so nah wie möglich an der Felswand, um nicht in die Tiefe sehen zu müssen. Wortlos kämpften wir uns durch den Matsch nach oben. Innerhalb kürzester Zeit hatten sich Veras Stiefel mit Dreck und Wasser vollgesogen, so dass sie nun aussahen wie zwei Miniatur-Moor-Monster.
„Hattest du denn keine anderen Schuhe dabei?“, fragte ich nach einer Weile.
„Doch, aber nur Schuhe mit Absatz für den Aufenthalt im Hotel. Mit denen kann ich jetzt wohl noch weniger anfangen“, seufzte Vera.
Ich musste grinsen. Die Vorstellung, wie Vera mit Regenschirm bewaffnet und auf Stöckelschuhen versuchte durch den Matsch zu balancieren, amüsierte mich.
„Den Preis für das beste Hütten-Outfit gewinnen wir beide heute wohl nicht mehr“, sagte ich in dem Versuch unsere Situation etwas aufzulockern.
„Bestimmt nicht!“, stimmte Vera zu. „Hoffentlich ist dieser Almöhi wenigstens zuhause!“
„Klar, ist er zuhause“, erwiderte ich zuversichtlich. „Welcher Idiot geht bei dem Wetter denn freiwillig raus?“
Vera zeigte auf uns beide und verzog den Mund zu einem klitzekleinen Botox-Lächeln. Ich lächelte zurück. Sieh an , dachte ich. In Extremsituationen haben wir sogar den gleichen Galgenhumor. Wer hätte das gedacht?
Ich beschloss unser Gezanke vorerst zu vergessen und hakte mich bei Vera unter. Einträchtig stapften wir so durch den Schlamm. Nach einer gefühlten Ewigkeit rief Vera plötzlich: „Sieh mal, da vorne! Da ist ein Haus!“
Vor uns mündete der Weg in ein kleines Bergplateau.
Wahnsinn, wir haben Heidis Haus gefunden , dachte ich. Tatsächlich ähnelte das Ensemble aus Wohnhaus und kleiner Scheune dem Haus des Almöhis aus meiner früheren Lieblingsserie „Heidi“.
Fehlte nur noch, dass der weißhaarige Almöhi mit Rauschebart gleich aus der Türe trat. Selbst die Ziegen aus der Fernsehserie standen auf einer kleinen eingezäunten Wiese unter einem Unterstand und suchten Schutz vor dem Regen. Ich konnte zwei Exemplare erkennen, eine kleine weiße Ziege mit schwarzen Flecken und eine große etwas dickere braune Ziege mit langen Hörnern.
„Vera, wir haben Heidi gefunden!“, scherzte ich.
„Ganz nett hier, wenn man auf so viel Natur steht. Sieht sehr urig aus!“, meinte Vera.
„Und jetzt?“, fragte ich.
„Na, wir klingeln. Falls dieser Mensch überhaupt eine Klingel hat!“, antwortete Vera und marschierte entschlossen zum Wohnhaus. Ich folgte ihr.
Aus groben Holzbohlen gebaut, mit Schindeldach und Alpenschnitzereien erinnerte das Wohnhaus sehr an eine dieser gemütlichen Skihütten, in die man während einer Skitour einkehrt. Sehr rustikal, aber dennoch durchaus einladend. Tatsächlich gab es weder eine Klingel, noch eine Glocke oder irgendetwas in der Art. Wozu auch , dachte ich. Der Hütten-Mann wird wohl nie Besuch bekommen.
Ein grollendes Geräusch war plötzlich zu hören. Es klang zwar weiter entfernt, aber dennoch zuckte ich zusammen.
„Vera, hast du das gehört?“, fragte ich.
„Ach, das war bestimmt nur Donner“, beruhigte sie mich.
„Meinst du? Ich finde, das hört sich merkwürdig an!“
Vera hörte mir gar nicht weiter zu. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, die Türglocke zu suchen. „Dachte ich mir doch, keine Klingel da“, bemerkte sie verärgert und klopfte energisch mit der Faust gegen die Haustüre.
„Warte mal“, sagte sie dann, zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und drehte sich zu mir um. Sie hatte ihre Tasche trotz des Regens mitgenommen und sie unter ihre Jacke gesteckt. Ich bereute ein bisschen, dass ich meine Handtasche nicht auch mitgenommen hatte, ich kam mir ohne sie so nackt vor. Vera befeuchtete das
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