Stachelzart
vor ihrem Bauch verschränkt. Vera öffnete den Mund, ich legte ihr eine Tablette auf die Zunge und reichte ihr das Wasser zum Runterspülen an die Lippen.
„Am besten legen wir sie erst einmal in mein Bett“, meinte Herr Wagner und hob Vera mit seinen starken Armen hoch. „Die wiegt ja gar nichts. Kein Wunder, dass sie so schnell umkippt“, sagte er kopfschüttelnd und trug Vera in seinen Schlafraum.
Ich saß immer noch im Flur und schlang die Arme um meine Knie. Hoffentlich half die Tablette. Was sollten wir bloß tun, wenn Vera einen richtigen Herzanfall bekommen würde. Hier draußen in der Einöde konnte uns niemand helfen. Ich nahm mein Handy aus der Jackentasche und schaltete es ein – null Balken.
Kein Empfang.
Draußen war jetzt nur noch ein leises Grollen zu hören. Den Erdrutsch hatte ich in der Aufregung um Vera tatsächlich ganz verdrängt. Ich stand auf, öffnete die Wohnungstüre und trat ins Freie.
Es sah wirklich schlimm aus. Der halbe Hang hatte sich gelöst und war abgerutscht. Die Erdmassen hatten auf dem Weg nach unten alles mitgerissen, was sich im Weg befand. Nur wenige Bäume waren stehen geblieben, die meisten waren abgeknickt. Nackte, zersplitterte Stümpfe ragten aus dem Boden. So wie es aussah, war auch der einzige Weg hinauf zur Hütte verschüttet worden.
Ob Veras Auto den Erdrutsch überlebt hatte?
Zumindest die Ziegen hatten sich retten können und waren über den umgefallenen Zaun gesprungen. Nun standen sie so, als ob nichts gewesen wäre, unweit der Hütte und fraßen Blumen von einem der Beete.
„Verdammt, das sieht übel aus“, tönte es auf einmal neben mir. Erschrocken zuckte ich zusammen. Samuel Wagner war unbemerkt neben mich getreten. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Deine Mutter schläft jetzt!“ Wie selbstverständlich war er vom Sie zum Du übergegangen.
„Ich danke Ihnen“, war alles, was ich herausbrachte.
„Lass das mit dem Siezen, ich bin Sam“, meinte er und streckte mir seine Hand entgegen. „Komm, ich mache dir jetzt noch einen Tee. Du zitterst ja auch schon. Zwei Kranke kann ich hier oben nicht gebrauchen.“
Ich folgte ihm zurück in die Hütte.
Als ich wieder auf dem Sofa Platz genommen hatte, fragte ich: „Wie kommen wir denn jetzt wieder hier weg?“
„So, wie es momentan aussieht, erst einmal gar nicht. Der Weg herauf ist durch den Erdrutsch verschüttet worden und ich habe hier oben kein Telefon. Ich konnte ja nicht ahnen, dass so etwas passieren würde. Ich hoffe nur, die Tabletten helfen deiner Mutter. Sonst weiß ich auch nicht, was wir tun können!“
Oh mein Gott, dachte ich.
Wir waren gefangen in der Einöde, ohne die Möglichkeit mit jemandem zu kommunizieren und Vera würde vielleicht einen Herzanfall bekommen.
Hätten wir doch nur auf Herrn Zeisig gehört.
Verzweifelt raufte ich mir die Haare. Gerade als ich dachte, es könnte nun nicht mehr schlimmer kommen, klopfte es draußen plötzlich laut an die Türe.
„Nanu, wer kann das denn nun schon wieder sein?“ Sam blickte verwundert zur Eingangstüre.
„Erwartest du jemanden?“, fragte ich ihn.
„Nein, ganz bestimmt nicht. Und Nachbarn habe ich hier auch keine. Das nächste Haus ist über drei Kilometer entfernt.“ Verwundert schüttelte er den Kopf und ging in den Flur. Ich folgte ihm neugierig, hielt mich aber zur Vorsicht etwas im Hintergrund. Nach den Erlebnissen heute war ich nämlich auf alles gefasst, auch auf an die Tür klopfende wilde Tiere oder etwas ähnlich Skurriles.
Es klopfte erneut.
Sam riss die Tür auf.
Vor dem Haus stand zwar kein klopfendes Tier, aber skurril war das, was dort stand mindestens genauso. Zwei hellblaue Augen musterten Sam genervt. „Na, endlich! Ich dachte schon, Sie machen nie auf!“
Der Mann, der vor der Tür wartete, sah aus, als wäre er einem dieser schicken Modemagazine entsprungen. Mit seinem schwarzen welligen Haar, das ihm verwegen in die Stirn fiel, seiner Lederjacke, der Jeans, dem Kaschmirschal und dem Regenschirm in der Hand wirkte er dermaßen deplatziert, dass ich trotz unserer momentan fatalen Situation leise kichern musste. Bei näherem Hinsehen konnte man allerdings erkennen, dass auch seine Kleidung unter dem Wettereinfluss gelitten hatte. Hose und Jacke waren trotz des Regenschirms mit kleinen Schlammspritzern besprenkelt und auch seine Schuhe hatten schon bessere Zeiten gesehen. Auf der Stirn hatte er eine kleine blutende Wunde.
„Wer zur Hölle sind Sie
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