Stachelzart
gefiel er mir deutlich besser. Nachdenklich kratzte er an der blutenden Stelle an seinem Kopf.
„Nicht kratzen”, befahl ich.
„Wie? Ach so. Da hat mich vorhin ein Ast getroffen. Das pocht so.“
„Sam, hast du irgendwo einen Verbandskasten?“, fragte ich unseren Gastgeber.
„Ja, im Badezimmer hängt ein Medizinschrank. Das Bad ist hinter der zweiten Tür auf der rechten Seite. Hinter der ersten ist das Schlafzimmer. Vielleicht kannst du auf dem Weg ja noch einmal nach deiner Mutter sehen. Aber sei leise, damit du sie nicht weckst.“
Froh darüber, etwas zu tun zu haben, öffnete ich leise die Schlafzimmertüre. Der Raum war winzig. Er bestand aus einer Schlafkoje, die in die Wand integriert war und einem Kleiderschrank an der Frontseite. Mehr als eine Person konnte in diesem Raum nicht ausgestreckt liegen. Für Sam alleine reichte die Größe des Raumes sicherlich, aber für Besuch war kein Platz.
Vera lag zugedeckt in Sams Bett, ihr Brustkorb hob und senkte sich. Ich ging näher an das Bett heran und horchte. Vera atmete ruhig und gleichmäßig. Gott sei Dank , dachte ich. Ihr scheint es besser zu gehen.
Leise schloss ich die Türe wieder und schlich ich ins Badezimmer. Der Raum war ebenfalls sehr klein, aber zweckmäßig eingerichtet. Es gab eine Badewanne mit integrierter Dusche, ein Waschbecken und ein WC, alles aus weißem Porzellan. Der Boden war mit schwarzem Granit gefliest. Männertypische Utensilien wie Rasierer und Deo standen auf der kleinen Ablage über dem Waschbecken. Sam schien, obwohl er so gut wie nie Besuch bekam, trotzdem Wert auf ein gepflegtes Äußeres zu legen. Wieso lebt er bloß so ganz alleine? Was muss er erlebt haben, dass er sich für dieses Einsiedlerleben entschieden hat? , überlegte ich. Sam gab mir Rätsel auf. Wie mürrisch er sein konnte und gleichzeitig doch so aufmerksam und hilfsbereit. Wie er sich um Vera gekümmert hatte und nun besorgt um ihren Schlaf war, war wirklich rührend. Obwohl er sie ganz offensichtlich gar nicht leiden konnte.
Ich warf einen Blick in den kleinen Wandspiegel und erschrak. Die erwachsene Version von Momo starrte mich aus dem Spiegel heraus an. Meine Locken standen wild in alle Richtungen und im Gesicht hatte ich immer noch einige Schlammspritzer, die aussahen wie Sommersprossen. Dass Kay König mich überhaupt als weibliches Wesen wahrgenommen hatte, musste an seiner Kopfverletzung liegen. Wahrscheinlich konnte er dadurch nicht mehr gut gucken und war geistig umnebelt. Diese Geschichte hier war so abgedreht, dass Mimi sie bestimmt nicht glauben würde. A ch Mimi, wenn du doch hier sein könntest , dachte ich und fühlte mich plötzlich sehr verloren. Vera schlief und ich würde den Abend mit zwei Männern verbringen müssen, die ich überhaupt nicht kannte. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass Kay König noch aufgetaucht war. Denn was wusste ich schon über Sam? Er könnte durchaus ein Verbrecher sein, der sich in die Berge zurückgezogen hatte, um sein nächstes großes Ding zu planen. Ich erschauderte bei dem Gedanken.
Zwar konnte ich mir nicht vorstellen, dass Sam etwas Unrechtes tun würde, denn ich fand ihn wirklich sympathisch, aber die richtig fiesen psychopathischen Verbrecher konnte man nicht immer auf Anhieb erkennen, das wusste ich aus den Krimi-Serien, die ich immer guckte. Kay König hingegen war zwar eingebildet, aber bestimmt nicht gefährlich.
Ich zog ein Ersatzhaargummi, dass ich für Notfälle immer in der Hosentasche hatte, heraus und band meine Haare zu einem Zopf zusammen.
Dann wusch ich mir das Gesicht.
Brr, das Wasser war ja eiskalt!
Anschließend wagte ich einen erneuten Blick in den Spiegel.
Schon besser!
Sams Medizinschrank, der an der Wand neben der Dusche hing, war nicht besonders groß, aber ich fand dort alles, was ich zum Verarzten brauchte: Desinfektionsspray, Jodsalbe, Mulltupfer und Heftpflaster. Behutsam schloss ich die Badezimmertüre hinter mir und schlich leise am Schlafzimmer vorbei, zurück ins Sams Wohnzimmer.
Dort saßen die beiden Herren auf dem Sofa und tauschten Informationen aus.
„Ach so, jetzt verstehe ich langsam ...“, bemerkte Kay König gerade.
„Anna“, Sam hatte mich erblickt, „hast du alles gefunden? Ich habe Herrn König gerade erzählt, warum ihr hier seid und was passiert ist. Vielleicht verarztest du ihn erst einmal, danach kann er dann erzählen, warum er hier ist!“
Ich nickte zustimmend und legte Pflaster und Jodsalbe auf Sams
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