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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Barber, glaube ich -, aber sie sagte im Prozeß aus. Anscheinend kam Stillman eines Tages nach Hause und sagte ihr, er werde sich nun um Peters Erziehung kümmern. Er reichte bei der Columbia University seinen Rücktritt ein und erklärte, er verlasse die Universität, um sich ganz seinem Sohn zu widmen. Geld spielte selbstverständlich keine Rolle, und niemand konnte etwas dagegen tun. Damals verschwand er mehr oder weniger. Er blieb in derselben Wohnung, ging aber kaum jemals aus. Niemand weiß, was wirklich geschah. Ich denke, er begann an irgendwelche ausgefallenen religiösen Ideen zu glauben, über die er geschrieben hatte. Das machte ihn verrückt, völlig wahnsinnig. Anders kann man es nicht nennen. Er sperrte Peter in ein Zimmer in der Wohnung ein, machte die Fenster dicht und hielt ihn dort neun Jahre gefangen. Versuchen Sie, sich das vorzustellen, Mr. Auster. Neun Jahre. Eine ganze Kindheit im Dunkeln, von der Welt abgeschnitten, ohne menschlichen Kontakt außer gelegentlichen Schlägen. Ich lebe mit dem Ergebnis dieses Experiments zusammen und kann Ihnen sagen: Der Schaden war ungeheuerlich. Was Sie heute gesehen haben, war Peter in seiner besten Form. Es hat dreizehn Jahre gedauert, ihn so weit zu bringen, und der Teufel soll mich holen, wenn ich zulasse, daß ihm noch einmal jemand weh tut.«
    Mrs. Stillman unterbrach sich, um wieder zu Atem zu kommen. Quinn fühlte, daß sie einem hysterischen Anfall nahe war und daß jedes weitere Wort ihn auslösen konnte. Er mußte etwas sagen, oder das Gespräch entglitt ihm.
    »Wie wurde Peter schließlich entdeckt?« fragte er.
    Die Frau entspannte sich ein wenig. Sie atmete hörbar aus und sah Quinn in die Augen.
    »Ein Feuer brach aus«, sagte sie.
    »Ein Unglücksfall oder Brandstiftung?«
    »Das weiß niemand.«
    »Was glauben Sie?«
    »Ich glaube, Stillman war in seinem Arbeitszimmer. Er hatte dort die Aufzeichnungen über sein Experiment, und ich glaube, er erkannte schließlich, daß es gescheitert war. Ich will nicht sagen, daß er etwas bereute, aber selbst nach seinen Begriffen muß er eingesehen haben, daß er versagt hatte. Ich denke, er erreichte einen Punkt, an dem er sich selbst verabscheute, und beschloß, seine Papiere zu verbrennen. Aber das Feuer griff um sich, und ein großer Teil der Wohnung verbrannte. Zum Glück lag Peters Zimmer am Ende eines langen Korridors, und die Feuerwehr kam rechtzeitig zu ihm durch.«
    »Und dann?«
    »Es dauerte mehrere Monate, bis man sich Klarheit verschaffen konnte. Stillmans Papiere waren vernichtet worden, was bedeutete, daß man keine konkreten Beweise hatte. Aber da waren Peters Zustand, das Zimmer, in dem er eingesperrt gewesen war, diese gräßlichen Bretter vor den Fenstern, und die Polizei rekonstruierte schließlich den Fall. Stillman wurde vor Gericht gestellt.«
    »Was geschah dort?«
    »Stillman wurde für geisteskrank erklärt und weggebracht.«
    »Und Peter?«
    »Er kam auch in ein Krankenhaus. Dort blieb er bis vor zwei Jahren.«
    »Haben Sie ihn dort kennengelernt?«
    »Ja, im Krankenhaus.«
    »Wie?«
    »Ich war seine Sprechtherapeutin. Ich arbeitete mit Peter fünf Jahre lang jeden Tag.«
    »Ich will nicht neugierig sein, aber wie hat das zur Ehe geführt?«
    »Das ist kompliziert.«
    »Macht es Ihnen etwas aus, es mir zu erzählen?«
    »Nicht wirklich. Aber ich glaube nicht, daß Sie es verstehen werden.«
    »Lassen Sie's darauf ankommen.«
    »Gut. Um es einfach auszudrücken: Es war die beste Möglichkeit, Peter aus dem Krankenhaus herauszuholen und ihm die Chance zu geben, ein normales Leben zu führen.«
    »Hätten Sie nicht zu seinem gesetzlichen Vormund ernannt werden können?«
    »Die Verfahren sind sehr kompliziert. Außerdem war Peter nicht mehr minderjährig.«
    »War das nicht ein ungeheures Opfer für Sie?«
    »Nicht wirklich. Ich war schon einmal verheiratet - eine Katastrophe. Das ist nichts, was ich mir für mich selbst noch einmal wünsche. Aber mit Peter hat mein Leben wenigstens einen Sinn.«
    »Stimmt es, daß Stillman entlassen werden soll?«
    »Morgen. Er kommt am Abend in der Grand Central Station an.«
    »Und Sie haben das Gefühl, daß er Peter etwas antun könnte. Ist das nur so eine Ahnung, oder haben Sie Beweise?«
    »Ein wenig von beidem. Vor zwei Jahren wollte man Stillman schon einmal entlassen. Aber er schrieb Peter einen Brief, und ich zeigte ihn den Behörden. Sie kamen zu dem Schluß, daß er doch noch nicht entlassen werden durfte.«
    »Was für eine Art von

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