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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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und ertappte sich wieder dabei, daß er sich vorstellte, wie sie ohne Kleider aussehen mochte. Machte sie ihm Avancen, fragte er sich, oder war es nur seine eigene Phantasie, die ihm wieder einmal einen Streich spielte? Er beschloß, seine Überlegungen aufzuschieben und sich später noch einmal mit dem Thema zu beschäftigen.
    Virginia Stillman kam ins Zimmer zurück und sagte: »Hier ist der Scheck. Ich hoffe, ich habe ihn richtig ausgestellt.«
    Ja, ja, dachte Quinn, während er den Scheck prüfte, alles tipptopp. Er freute sich über seine Schlauheit. Der Scheck war natürlich auf Paul Auster ausgestellt, was bedeutete, daß Quinn nicht dafür zur Rechenschaft gezogen werden konnte, daß er sich ohne Lizenz als Privatdetektiv ausgab. Es beruhigte ihn zu wissen, daß er sich abgesichert hatte. Daß er den Scheck nie einlösen konnte, störte ihn nicht. Er begriff schon damals, daß er all das nicht für Geld tat. Er schob den Scheck in die innere Brusttasche.
    »Es tut mir leid, daß ich kein neueres Foto habe«, sagte Virginia Stillman. »Dieses hier ist vor mehr als zwanzig Jahren gemacht worden. Aber ich fürchte, das ist alles, was ich tun kann.«
    Quinn betrachtete das Bild von Stillmans Gesicht und hoffte auf eine spontane Erleuchtung, eine plötzliche, aus dem Verborgenen aufsteigende Erkenntnis, die ihm helfen würde, den Mann zu verstehen. Aber das Bild sagte ihm nichts. Es war einfach nur das Bild eines Mannes. Er studierte es noch einen Augenblick länger und kam zu dem Schluß, daß es irgend jemanden und niemanden darstellte.
    »Ich werde es mir genauer ansehen, wenn ich nach Hause komme«, sagte er und steckte es in dieselbe Tasche, in der sich schon der Scheck befand. »Ich bin sicher, ich werde ihn morgen am Bahnhof erkennen, wenn ich die inzwischen vergangenen Jahre berücksichtige.«
    »Ich will es hoffen«, sagte Virginia Stillman. »Es ist so wichtig, und ich verlasse mich auf Sie.«
    »Keine Sorge«, sagte Quinn. »Ich habe noch niemanden enttäuscht.«
    Sie begleitete ihn zur Tür. Einige Sekunden lang blieben sie schweigend vor ihr stehen und wußten nicht, ob es noch etwas zu sagen gab oder ob es Zeit war, sich zu verabschieden. Während dieser kurzen Pause warf Virginia Stillman plötzlich die Arme um Quinn, ihre Lippen suchten die seinen, und sie küßte ihn leidenschaftlich und steckte ihm die Zunge tief in den Mund. Quinn war so überrascht, daß er es beinahe zu genießen versäumte. Als er endlich wieder atmen konnte, hielt ihn Mrs. Stillman auf Armeslänge und sagte: »Das soll beweisen, daß Ihnen Peter nicht die Wahrheit gesagt hat. Es ist sehr wichtig, daß Sie mir glauben.«
    »Ich glaube Ihnen«, sagte Quinn. »Und auch wenn ich Ihnen nicht glaubte, würde es wirklich nichts ausmachen.«
    »Ich wollte nur, daß Sie wissen, wozu ich imstande bin.«
    »Ich glaube, ich kann es mir ganz gut vorstellen.«
    Sie nahm seine Rechte in beide Hände und küßte sie. »Danke, Mr. Auster. Ich glaube wirklich, Sie sind die Rettung.«
    Er versprach ihr, sie am nächsten Abend anzurufen, dann ging er durch die Tür, nahm den Fahrstuhl nach unten und verließ das Gebäude. Mitternacht war vorüber, als er auf die Straße trat.

4

    Quinn hatte schon von Fällen wie Peter Stillman gehört. Früher, in den Tagen seines anderen Lebens, nicht lange nach der Geburt seines eigenen Sohnes, hatte er einmal ein Buch über den wilden Knaben von Aveyron rezensiert, und damals hatte er einige Nachforschungen über dieses Thema angestellt. Soweit er sich erinnern konnte, erschien der früheste Bericht über ein solches Experiment in den Schriften Herodots: Der ägyptische Pharao Psamtik ließ im 7. Jahrhundert v. Chr. zwei Kinder einsperren und befahl den für sie verantwortlichen Dienern, in ihrer Gegenwart niemals ein Wort zu sprechen. Nach Herodot, einem notorisch unzuverlässigen Chronisten, lernten die Kinder sprechen - ihr erstes Wort war das phrygische Wort für Brot. Im Mittelalter wiederholte Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, das Experiment. Er hoffte, die wahre »natürliche Sprache« des Menschen zu entdecken, und wandte ähnliche Methoden an, aber die Kinder starben, bevor sie ein einziges Wort sprachen. Anfang des 16. Jahrhunderts schließlich behauptete König Jakob IV. von Schottland, daß schottische Kinder, die man ebenso isolierte, zuletzt »sehr gutes Hebräisch« sprechen würden, was zweifellos ein Scherz sein sollte. Komische Käuze und von seltsamen Ideen Besessene

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