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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ein Ei. Aber der Versprecher ist aufschlußreich und hilft mir, meine Behauptung zu beweisen. Denn alle Menschen sind gewissermaßen Eier. Wir existieren, aber wir haben noch nicht die Gestalt erlangt, die unser Schicksal ist. Wir sind ein reines Potential, ein Beispiel für das Noch-nicht-Angekommene. Denn der Mensch ist ein gefallenes Geschöpf - wir wissen das aus der Genesis. Humpty Dumpty ist ebenfalls ein gefallenes Geschöpf. Er fällt von seiner Mauer herunter, und niemand kann ihn wieder zusammensetzen, weder der König noch seine Pferde noch seine Männer. Aber das ist es, wonach wir alle streben müssen. Es ist unsere Menschenpflicht, das Ei wieder zusammenzusetzen. Denn jeder von uns, Sir, ist Humpty Dumpty. Und ihm helfen heißt uns selbst helfen.«
    »Ein überzeugendes Argument.«
    »Es ist unmöglich, einen Fehler darin zu finden.«
    »Kein Sprung im Ei.«
    »Richtig.«
    »Und zugleich der Ursprung Henry Darks.«
    »Ja. Aber es steckt noch mehr dahinter. Nämlich ein zweites Ei.«
    »Es gibt mehr als eines?«
    »Du lieber Himmel, ja. Es gibt Millionen. Aber das eine, an das ich denke, ist besonders berühmt. Es ist wahr­scheinlich das berühmteste aller Eier.«
    »Jetzt kann ich Ihnen nicht mehr folgen.«
    »Ich spreche vom Ei des Kolumbus.«
    »Ah ja, natürlich.«
    »Sie kennen die Geschichte?«
    »Jeder kennt sie.«
    »Sie ist reizend, nicht wahr? Als er das Problem zu lösen hatte, wie man ein Ei auf die Spitze stellt, stieß Kolumbus es einfach leicht auf dem Boden auf und zerbrach die Schale gerade so weit, daß eine kleine ebene Fläche entstand, die das Ei stützte, als er seine Hand zurückzog.«
    »Es funktionierte.«
    »Natürlich funktionierte es. Kolumbus war ein Genie. Er suchte das Paradies und entdeckte die Neue Welt. Es ist noch nicht zu spät für sie, das Paradies zu werden.«
    »Gewiß nicht.«
    »Ich gebe zu, daß es bis jetzt nicht allzu gut gegangen ist. Aber noch besteht Hoffnung. Die Amerikaner haben nie die Sehnsucht verloren, neue Welten zu entdecken. Wissen Sie noch, was 1969 geschah?«
    »Ich erinnere mich an vieles. Woran denken Sie?«
    »Menschen betraten den Mond. Denken Sie daran, mein lieber Herr. Menschen betraten den Mond!«
    »Ja, ich erinnere mich. Dem Präsidenten zufolge war es das größte Ereignis seit der Schöpfung.«
    »Er hatte recht. Es war das einzig Gescheite, was dieser Mann jemals sagte. Und was glauben Sie, wie der Mond aussieht?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    »Kommen Sie. Denken Sie noch einmal nach.«
    »Ah ja, jetzt sehe ich, was Sie meinen.«
    »Zugegeben, die Ähnlichkeit ist nicht vollkommen. Aber es ist wahr, daß der Mond in gewissen Phasen, besonders in klaren Nächten, einem Ei sehr ähnlich sieht.«
    »Ja, sehr ähnlich.«
    In diesem Augenblick erschien eine Serviererin mit Stillmans Frühstück und stellte es vor ihn auf den Tisch. Der alte Mann betrachtete die Speisen mit Behagen. Manierlich hob er mit der rechten Hand ein Messer, klopfte die Schale seines weich gekochten Eis auf und sagte: »Wie Sie sehen, Sir, lasse ich nichts unversucht.«

    Die dritte Begegnung fand später am selben Tag statt. Der Nachmittag war schon weit fortgeschritten: Das Licht lag wie Gaze auf den Ziegeln und Blättern, die Schatten wurden länger. Wieder einmal zog sich Stillman in den Riverside Park zurück, diesmal bis an den Rand, und er kam auf einer buckeligen Erhöhung an der 84th Street zur Ruhe, die Mount Tom genannt wird. An derselben Stelle hatte in den Sommern der Jahre 1843 und 1844 Edgar Allan Poe viele lange Stunden verbracht und auf den Hudson hinausgeblickt. Quinn wußte es, weil er es sich angelegen sein ließ, solche Dinge zu wissen. Tatsächlich hatte auch er selbst oft dort gesessen. Er hatte nun wenig Angst vor dem, was er tun mußte. Er ging zwei- oder dreimal um den Felsen herum, vermochte aber Stillmans Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken. Dann setzte er sich neben den alten Mann und begrüßte ihn. Unglaublicherweise erkannte ihn Stillman nicht wieder. Zum drittenmal erschien Quinn nun schon, und jedesmal war es so, als wäre er jemand anders. Er konnte nicht entscheiden, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Wenn sich Stillman verstellte, war er ein Schauspieler, wie es keinen zweiten auf der Welt gab. Denn jedesmal war Quinn überraschend aufgetaucht, und dennoch hatte Stillman keine Miene verzogen. Wenn ihn Stillman andererseits wirklich nicht wiedererkannte - was bedeutete das? War es möglich, daß jemand so

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