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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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machte die Erfahrung, daß Essen nicht notwendigerweise das Ernährungsproblem löst. Eine Mahlzeit war nur eine schwache Verteidigung gegen die Unvermeidlichkeit der nächsten Mahlzeit. Nahrung selbst konnte nie das Problem der Nahrung lösen; sie zögerte nur den Augenblick hinaus, in dem die Frage ernstlich gestellt werden mußte. Die größte Gefahr bestand daher darin, zuviel zu essen. Nahm er mehr zu sich, als er sollte, steigerte sich sein Appetit auf die nächste Mahlzeit, und es war mehr Nahrung nötig, um ihn zu befriedigen. Indem er sich ständig sorgfältig beobachtete, war Quinn imstande, den Prozeß umzukehren. Es war sein Ehrgeiz, so wenig wie möglich zu essen und dadurch den Hunger abzuwehren. In der besten aller Welten wäre es ihm vielleicht gelungen, den absoluten Nullpunkt zu erreichen, aber er wollte unter den gegenwärtigen Umständen nicht allzu ehrgeizig sein. Im Geiste sah er das totale Fasten als ein Ideal, einen Zustand der Vollkommenheit, den er anstreben, aber nie erreichen konnte. Er wollte nicht verhungern - und daran erinnerte er sich selbst jeden Tag -, sondern nur frei sein, um an die Dinge zu denken, die ihn wirklich etwas angingen. Für den Augenblick bedeute­te das, daß er sich vor allem mit dem Fall beschäftigen mußte. Zum Glück ließ sich das mit seinem anderen Ehrgeiz vereinen, mit den dreihundert Dollar so lange wie möglich auszukommen. Es versteht sich von selbst, daß Quinn während dieser Zeit stark abmagerte. Sein zweites Problem war der Schlaf. Er konnte nicht immerzu wach bleiben, aber eben das erforderte die Situation von ihm. Auch hier mußte er gewisse Konzessionen machen. Wie in bezug auf das Essen hatte Quinn das Gefühl, daß er mit weniger auskommen konnte, als er gewohnt war. Statt der sechs bis acht Stunden Schlaf, die er sich sonst gönnte, beschloß er, sich auf drei oder vier zu beschränken. Die Umstellung fiel ihm schwer, aber noch viel schwieriger war das Problem, wie er diese Stunden so verteilen sollte, daß die größtmögliche Wachsamkeit gewährleistet war. Offensichtlich durfte er nicht vier Stunden hintereinander durchschlafen. Das Risiko war zu groß. Theoretisch wäre es am wirksamsten gewesen, alle fünf oder sechs Minuten dreißig Sekunden lang zu schlafen. Das hätte die Gefahr, etwas zu versäumen, auf praktisch Null reduziert. Aber er sah ein, daß dies physisch unmöglich war. Indem er aber diese Unmöglichkeit als eine Art Modell zugrunde legte, versuchte er sich darin zu üben, eine Reihe von kurzen Nickerchen zu machen und sooft wie möglich zwischen Schlafen und Wachen hin und her zu wechseln. Es war ein langer Kampf, der Disziplin und Konzentration erforderte, und je länger das Experiment dauerte, desto erschöpfter war er. Am Anfang versuchte er es mit Sequenzen von jeweils fünfundvierzig Minuten, die er allmählich auf dreißig Minuten reduzierte. Zuletzt gelang es ihm mit recht gutem Erfolg, immer nur eine Viertelstunde zu schlafen. Eine Kirche in der Nähe half ihm bei seinen Bemühungen. Ihre Glocken schlugen alle fünfzehn Minuten - einmal für die Viertelstunde, zweimal für die halbe Stunde, dreimal für die Dreiviertelstunde und viermal für die volle Stunde, worauf noch die Schläge folgten, welche die Zeit anzeigten. Quinn lebte nach dem Rhythmus dieser Uhr, und zuletzt konnte er ihn kaum noch von seinem eigenen Puls unterscheiden. Um Mitter­nacht begann seine allnächtliche Routine. Er schloß die Augen und schlief ein, bevor die Uhr zwölf geschlagen hatte. Fünfzehn Minuten später wachte er auf, wenn die halbe Stunde schlug, schlief er wieder ein, und bei den Schlägen der Dreiviertelstunde wachte er wieder auf. Um drei Uhr dreißig ging er sein Essen holen, um vier Uhr war er zurück und schlief dann wieder. Er träumte während dieser Zeit wenig, und wenn, waren seine Träume sonder­bar: kurze Visionen des Unmittelbaren - seine Hände, seine Schuhe, die Ziegelmauer neben ihm. Und es gab auch keinen Augenblick, in dem er nicht todmüde war. Sein drittes Problem war der Schutz vor der Witterung, aber es ließ sich leichter lösen als die beiden anderen. Zum Glück blieb das Wetter warm, und als der Spätfrühling in den Sommer überging, regnete es nur wenig. Ab und zu gab es einen Schauer und ein- oder zweimal ein Gewitter mit Donner und Blitz, aber alles in allem war das Wetter nicht schlecht, und Quinn hörte nie auf, für sein Glück zu danken. Weiter hinten in der Gasse stand eine große Blechtonne für

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