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Stadt aus Sand (German Edition)

Stadt aus Sand (German Edition)

Titel: Stadt aus Sand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierdomenico Baccalario , Enzo d'Alò , Gaston Kaboré
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Auftritts gekommen.
    »Du wirst sehen«, sagte Rokia ganz ruhig. »Sie werden begeistert sein.«
    Mit der Kora in der Hand hatte Matuké einen Teil seiner asketischen Ausstrahlung wiedergewonnen.
    Er hatte darauf bestanden, sich fern von den Augen der anderen Zuschauer umzuziehen, und Napoleon deshalb in ein schmutziges Gässchen gezerrt, in dem es nach Johannisbrotfrüchten und verfaultem Kohl stank. Hier hatte seine Verwandlung stattgefunden. Er hatte das mit Sternen bestickte schwarze Gewand angezogen, das schon sein Vater getragen hatte. Um die Hüfte hatte er eine silberne Schärpe geschlungen. Er hatte eine weiche Kopfbedeckung mit schwarzen, silbernen und goldenen Streifen aufgesetzt und tief in die Stirn gezogen und sich das Gesicht mit einer Paste aus Kräutern, Wasser und Ockererde geschminkt.
    »Rot ist die Farbe der Energie …«, hatte er Rokia erklärt. »Es hilft dem Öl des Gesangs, aus seinem Gefängnis hervorzukommen.«
    Rokia bewunderte ihn, und wie damals, als er vor seiner Hütte gesungen hatte, sah sie nicht nur den Körper eines alten Mannes vor sich, sondern etwas Größeres, Erhabeneres, das so tief und unergründlich war wie das Schwarz seines Mantels, so unveränderbar und absolut wie die Sterne, die auf ihm prangten. In seinem Griot -Gewand wirkte ihr Großvater wie ein Mann aus früherer Zeit auf sie. Wie ein mächtiger Mann. Die Kora , die er umklammert hielt, verwandelte sich in ihren Augen in ein geheimnisvolles Instrument, das in seinem Kürbisbauch tatsächlich die gesamte Welt enthielt, fein geordnet wie die Harmonien der Tonleitern.
    Während sie so bewundernd zu ihm aufschaute, ging die Sonne unter. Ihr Großvater machte sich mit einem Seufzer von ihr los und überquerte den Platz, der ihn von der Bühne der Griot trennte.
    Er wirkte wie der Geist eines Gottes.
    Nun wandte er sich ein letztes Mal als Großvater an Rokia: »Pass gut auf Napoleon auf.« Dann wurde er zu dem großen Geschichtensänger. Sein schwarzes Gewand zog die Augen aller Anwesenden auf sich.
    Matuké bewegte sich langsam, nahm sich so viel Zeit, wie er brauchte. Er erreichte die Baobabs und setzte sich dort auf den Boden, mit aufrechtem Rücken, die Kora legte er in die Mulde zwischen seinen Knien. Rokia verfolgte gespannt alle seine Bewegungen und vergaß dabei beinahe zu atmen. Doch sie war nicht die Einzige, der es so erging. Sie hörte, wie rund um sie getuschelt wurde.
    Fragen wurden laut.
    »Wer ist dieser alte Mann?«
    »Das soll er sein.«
    »Matuké? Aber nein, das ist unmöglich!«
    »Das ist Matuké, wenn ich es dir doch sage!«
    »Der alte Matuké? Aber ist der nicht schon längst tot?«
    »Wie alt ist der jetzt? Zweihundert Jahre?«
    »Wo ist er denn auf einmal hergekommen? Und wann?«
    »Ich habe ihn heute Morgen gesehen.«
    »Matuké war hier? Heute Morgen? Und keiner hat mir Bescheid gesagt?«
    »Wo denn? Wo denn?«
    »Er war hier, gerade eben erst. Dort bei dem Mädchen!«
    Während der alte Griot die Saiten seiner Kora stimmte, wurden die Stimmen immer lauter, das leise Raunen verwandelte sich in ein beharrliches Murmeln und steigerte sich schließlich zu einem Gewirr ungläubiger Fragen. Wohin Rokia auch ihre großen Ohren hielt und lauschte, hörte sie nur den Namen ihres Großvaters, den die Anwesenden auf alle nur erdenkliche Weise aussprachen und verunstalteten.
    »Matuké! Matùke! Mattuche! Matuckee!«
    Die Zuschauer der hinteren Reihen drängten nach vorn, weil sie sich selbst davon überzeugen wollten, ob es stimmte, was man sich da erzählte.
    »Lasst mich auch mal sehen!«
    »Ich möchte ihn hören!«
    »Vorwärts! Matuké ist hier! Er ist wieder da!«
    Rokia drehte sich um und bemerkte, dass viele Augen auf sie gerichtet waren. Sie lächelte, eingeschüchtert von der Neugier, die in all diesen Blicken lag, und sagte: »Er ist mein Großvater.«
    Unter den zwei Affenbrotbäumen, die sich über den Gräbern der beiden Sängern aus früheren Zeiten erhoben, begann Matuké der Geschichtensänger mit seiner Darbietung. Dazu ließ er zunächst seine Finger einmal sanft über die Saiten gleiten, die mit ihren schillerndem Klangfarben die letzten funkelnden Strahlen der Sonne einzufangen schienen, um diese Töne dann auf alle Anwesenden herabperlen zu lassen.
    Rund um die Stadt Tamanè schien das Grasland im Schein des Sonnenuntergangs in Feuer aufzugehen. Schwärme von Kranichen mit gelben Federschöpfen und aschgraue Reiher erhoben sich in den Himmel wie Blätter, die vom Wind in die

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