Stadt aus Sand (German Edition)
Luft gewirbelt werden.
»Funken des Feuers, Funken des Herzens …«, begann der Griot sein Lied.
Und dann sang er es weiter.
Rokia sang leise einige Zeilen mit, während Matuké seine Stimme mit unglaublicher Sicherheit ertönen ließ. Er legte immer wieder Pausen in seiner musikalischen Darbietung ein, fügte Dialoge ein, in denen er die Stimmen von verschiedenen Personen und Tieren imitierte. Es war, als ob dort auf der Bühne nicht nur ein einziger Mann sang, sondern zehn, ja hundert Geschichtensänger. Als seien die beiden alten Griot , die unter den Bäumen begraben lagen, wiederauferstanden, um gemeinsam mit ihm zu singen.
Als Matukés Lied seinen Höhepunkt erreichte, verdunkelte sich die Sonne am Horizont. Doch alle lauschten den Worten des alten Geschichtensängers so gebannt, dass sie es nicht wahrnahmen. Nur Napoleon begann, am Halfter in Rokias Hand zu zerren.
»Schscht …«, zischte ihm das Mädchen zu. »Ruhig, ganz ruhig.«
Doch der Esel wollte nicht aufgeben. Mit weitaufgerissenen Augen stampfte er mit den Hufen auf und versuchte zurückzuweichen.
»Jetzt lass das doch, Napoleon!«, versuchte ihn Rokia zu beruhigen.
Aber der Esel blieb hartnäckig. Er bemerkte als Einziger, dass sich etwas zusammenbraute.
Der Himmel hatte sich verfinstert, und von der Wüste her erhob sich plötzlich ein Wind. Napoleon brüllte so laut, dass die Leute in seiner Umgebung sich beschwerten. Rokia wusste nicht, was sie tun sollte. Sie versuchte, an seinem Halfter zu ziehen, doch damit bewirkte sie nur, dass der Esel sich aufbäumte und ihr mit einem heftigen Ruck das Seil aus der Hand riss.
Trotz des aufkommenden Windes fuhr Matuké unbeirrt mit seiner Darbietung fort. Büsche, Papierfetzen und Blätter wirbelten über die Bühne der Griot . Kreischend erschien ein Schwarm schwarzer Geier über den Dächern der umstehenden Häuser. Zwischen ihnen schwebten Tentakel aus schwarzem Rauch, die aussahen wie Schlangen. Die Menge konnte nicht einmal aufschreien, da stürzten die Geier schon auf die Leute herab und lösten unter ihnen eine Panik aus, während die Schlangen aus Rauch sich auf den Geschichtensänger herabsenkten und sich wie Schlingpflanzen um seinen Hals und seinen Körper wickelten.
Rokia bekam kaum mit, was geschah. Nachdem sie Napoleon verloren hatte, bemerkte sie, dass ihr Großvater aufgehört hatte zu singen. Dann hörte sie um sich herum nur noch Schreie und das irre Flattern von Hunderten schwarzer Flügel.
»Dämonen! Böse Geister!«, schrien die Leute und schubsten einander auf der Flucht beiseite.
»Großvater!«, schrie Rokia und versuchte, durch die Beine der Flüchtenden etwas zu erkennen.
Doch sie konnte nichts sehen. Sie schrie und taumelte mal hierhin und mal dorthin, völlig verängstigt und von der gleichen wahnsinnigen Panik überwältigt, die die anderen Zuschauer ergriffen hatte. Sie stolperte, stand wieder auf, rannte, schubste, schob, bis sie endlich unvermittelt ein Seil in Händen hielt, das wie Napoleons Halfter aussah. Sie blickte auf und sah sich ihrem Tier gegenüber, das vor Schreck erstarrt war, während sich seine Nüstern zitternd blähten.
»Napoleon! Napoleon!«, rief das Mädchen und presste sich eng an ihn, um den Stößen und Hieben aus allen Richtungen besser standhalten zu können. Sie hielt sich an dem kräftigen Hals des Esels fest, so wie man sich in einem Sturm an einem Baumstamm festklammert, während man darum betet, dass er der Wucht standhalten möge. Um sie herum flüchteten die Leute, schrien, brüllten und bildeten eine Mauer aus Menschenleibern, durch die für Rokia kein Durchkommen war.
»Wo ist Großvater, Napoleon? Wo ist er bloß?«
Ohne das Halfter loszulassen, kletterte Rokia auf den Rücken des Esels und versuchte von dort oben, Matuké ausfindig zu machen. Während sie sich in seine Mähne krallte, sah sie plötzlich die beiden Baobab-Bäume vor sich, von denen alle wegrannten.
»Wir müssen dorthin, Napoleon! Dorthin!«, schrie das Mädchen.
Denn Matuké saß immer noch in der Mitte des Platzes, stumm, einen Ausdruck der Überraschung auf seinem mit rötlichem Ocker bemalten Gesicht.
Als Rokia und Napoleon ihn endlich erreichten, waren die Geier und die schwarzen Rauchschlangen verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.
Auf dem Platz von Tamanè war eine unnatürliche Stille eingekehrt. Überall lagen zurückgelassene Gegenstände, Kleiderfetzen und Essgeschirr auf dem Boden. Allmählich versammelte sich ein kleines
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