Stadt aus Sand (German Edition)
segnete seine Abreise und erklärte uns, mein Bruder sei wie die mutige Ameise, die den Ameisenbau verlässt, um Nahrung für alle zu finden. Er wollte bald zurückkehren. Das hatte mein Vater auch gesagt, als er sich einen Lehrmeister gesucht hatte. Und dann war er sechzehn Jahre unterwegs gewesen.«
Setuké wurde traurig und schwieg eine ganze Weile.
»Niemand lernt ohne einen Lehrmeister«, wiederholte er, als wollte er seine Gedanken ordnen. »Das ist noch nie geschehen. Und das einzige Mal, als es geschehen ist … Ach. Aber lassen wir das jetzt. Heute ist nichts mehr richtig, verstehst du? Es gibt junge Leute, die sich keine Lehrmeister mehr suchen. Und Meister, die sterben, ohne einen Nachfolger gefunden zu haben, jemanden, an den sie ihr Wissen weitergeben können.«
Der Hogon sah Zouley eindringlich an: »So geht es mir jetzt.«
Die Frau entgegnete: »Aber vor einigen Jahren hattest du doch einen Jungen gefunden, wie hieß er noch?«
Setuké hob abwehrend die Hand: »Ich hatte mich in dem Jungen geirrt. Er war sehr begabt, aber er wollte alles wissen, ohne sich genug Zeit zu geben, um zu lernen. Er lauschte lieber dem Radio als meinen Worten. Und weil er den Kopf mit diesem Gerede vollgestopft hatte, dachte er, in der Stadt gebe es etwas Wichtigeres zu tun, folgte dieser Illusion und verließ uns.«
»Vielleicht hat auch er sich auf die Suche nach einem anderen Lehrmeister gemacht.«
»Es kann keine Lehrmeister geben, wo es keine Stille gibt. Ein Baum blüht nur einmal im Jahr, und nur wenn seine Blüten aufgehen, hörst du ihr Rascheln. Die Ruhe davor hilft dem Baum zu lernen, wie er sie erblühen lässt. Und die Ruhe danach hilft ihm, dies alles zu vergessen, damit er es dann wieder von vorn lernen kann. So sollten es auch die Menschen tun, das mache ich bei jeder heiligen Handlung, selbst beim unbedeutendsten Ritual. Wenn du eine Maske herstellen willst, musst du dir erst in absoluter Ruhe den richtigen Baum dafür suchen, dann das Holz mit Hühnerblut benetzen, das Stück abhacken, das du für die Maske brauchst, und stillschweigend beginnen, sie zu schnitzen. Und du musst sie gleichmäßig von links und von rechts bearbeiten. Wir müssen den Körper und das Holz ständig mit Sesamöl einreiben. Und dann, wenn die Maske fertig ist, müssen wir sie an einen ruhigen Ort bringen und sie dort ruhen lassen, damit das Holz die Zeit hat zu begreifen, was mit ihm geschehen ist.«
In der folgenden Stille zeichnete Setuké einen Kreis auf den Boden, der an beiden Enden zusammengedrückt war: »Als mein Bruder wegging, fiel es mir sehr schwer, allein zu bleiben, doch mein Meister hat mich gelehrt, mich der Einsamkeit zu stellen, und er hat mir einige Worte beigebracht, durch die ich Matuké in meiner Nähe spürte. Ich wusste nicht, wo er war, aber ich fühlte, dass er lebte, dass er durch die Welt lief, und in manchen Nächten, wenn ich oben auf der Falaise stand, glaubte ich sogar, ihn singen zu hören. Er war zwar fortgegangen, aber trotzdem hatte er das Dorf nicht verlassen. Seine Wurzeln waren hier geblieben, und ich konnte sie jeden Tag spüren und mich mit ihnen begnügen, bis er fünf Jahre später zurückkehrte. Da war mein Bruder schon ein Mann. Er war ein Griot . Und ich ein Hogon . Als wir einander wiedersahen, war es, als hätten wir uns eben erst getrennt. Er sah mich an und sagte: ›Komm mit, da ist etwas, was wir tun müssen.‹«
Dann schwieg Setuké wieder lange Zeit.
»Und was musstet ihr tun?«, fragte Zouley zitternd.
»So etwas sollte man nicht nachts erzählen«, meinte Setuké. »Die Nacht dient dem Vergessen, nicht dem Lernen.«
Doch Zouleys leicht geöffnete Lippen zitterten vor Ungeduld, denn je mehr Setuké erzählte, desto weniger begriff sie, was das alles mit Rokias Verschwinden zu tun hatte.
»Auf seinen Reisen hatte mein Bruder einen Lehrmeister gefunden«, fuhr der Hogon fort. »Dieser Meister hatte ihm eine alte Geschichte erzählt. Von einem Menschen, der jetzt keiner mehr war. Einem Mann, der das innerste Wesen des Bösen gefunden hatte, und nun war um ihn herum das Böse gewachsen. Ein Mann, der die Gesetze der Menschen verändert hatte, sich von den Seelen der Welt nährte und die hasste, die er nicht aus ihren Körpern herausreißen konnte. Das war der Mann, der unseren Vater getötet hatte. Und mein Bruder hatte herausgefunden, warum.«
Als der Priester wieder schwieg, glaubte Zouley fest, er sei abwesend, hinge seinen Gedanken nach. Deshalb sagte sie zu ihm:
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