Stadt aus Sand (German Edition)
schien niemand dort zu sein, abgesehen von einem Elefanten, dessen Hinterbeine an der Mauer festgekettet waren. Eine seltsame Art von Zaumzeug verband ihn mit einem Flaschenzug und dem Seil, an dem Rokia nach oben gezogen worden war. Das Tier kam auf sie zu, nahm ihr mit dem Rüssel das Seil aus der Hand und warf es wieder hinunter in den Schacht.
Dann blieb der Elefant stehen, als versuchte er, die Lage zu überblicken.
Rokia hob eine Hand, um ihn zu streicheln: »Vielen Dank, dass du mich hochgezogen hast!«, flüsterte sie ihm zu.
Der Elefant wedelte mit den Ohren und kehrte an seinen Platz bei der Wand zurück.
Rokia sah sich ihre Verletzungen an: Ihre Hände und die rechte Schulter waren aufgeschürft, aber alles in allem war ihr nichts weiter passiert. Vorsichtig kletterte sie von dem Berg aus Geldkörben herab und ging auf das Tor zu, durch das Sonnenlicht hereindrang.
Es war nur angelehnt.
Das Mädchen blieb kurz stehen. Dann drückte es sanft dagegen und stieß es auf.
Rokia fand sich in einem Säulengang wieder, der rund um einen riesigen, mit Sand bedeckten Hof verlief. Über ihm leuchtete kupferfarben der Himmel, und in der Mitte erhob sich ein großer schwarzer Baobab.
Rokia glitt langsam im Schatten der Arkaden vorwärts. Sie lehnte sich an eine Säule und schaute eingeschüchtert in den Hof. Kein Zweifel: Sie befand sich im Inneren des Palastes.
Seine Mauern waren unglaublich hoch und nur ab und zu von sehr schmalen Fensterschlitzen durchbrochen. Die Türme ragten wie gigantische Blöcke in den Himmel. Rokia kam sich vor wie eine kleine Ameise, die aus Versehen hier gelandet war.
Doch die Stille um sie herum beunruhigte sie fast noch mehr.
»Was nun, Großvater?«, fragte sie sich.
Sie hatte keinen Anhaltspunkt, außer vielleicht dem schwarzen Baobab in der Mitte des Hofes. Allerdings hielt sie es für nicht sonderlich geschickt, den schützenden Schatten zu verlassen. Sie lief lieber den Säulengang entlang, wohin sie der Zufall leitete.
Doch sie kam nur ein paar Schritte weit.
Dann begegnete sie dem traurigen Blick eines Löwen.
Es war ein beeindruckendes Tier, das man dort in einen Käfig gesperrt hatte. Trotz seiner vollen Mähne wirkte es jung. Der Löwe saß auf seinen Hinterpfoten und beobachtete sie neugierig. Rokia hatte noch nie einen Löwen aus dieser Nähe gesehen.
Sie bemerkte, dass der Käfig des Löwen nur der erste einer ganzen Reihe von Tiergefängnissen war. Bei jedem war eine Gittertür zur inneren Seite des Säulengangs eingelassen.
Es gab zwei kleine Affen, die starr in einer dunklen Ecke hockten. Ein Krokodil, dessen Maul in eine Wasserpfütze getaucht war. Eine weiße Gazelle. Ein merkwürdiges Tier, das Rokia nicht erkennen konnte. Alle beobachteten sie resigniert.
»Hier sind Tiere eingesperrt, Großvater … Dieser Palast gefällt mir nicht.«
Sie lief eine ganze Flanke des Innenhofes ab. In der Ecke war eine große Treppe, die zu einem der Palasttürme hinaufführte. Rokia setzte einen Fuß auf die erste Stufe und blickte dann nach oben: Die Stufen und das Gewölbe waren komplett aus Sand geformt.
Sie stieg aufwärts, wobei sie mit dem Rücken an der leicht gebogenen Innenseite entlangstrich. Die Treppe führte sie zu einem weiteren Gang, dessen Säulen und Öffnungen kleiner waren, aber auf denselben Innenhof gingen. Anstelle der Käfige waren hier im ersten Stock leere Zimmer.
Da Rokia nicht wusste, wohin sie sich wenden sollte, lief sie die Längsseite des Palastes entlang und spähte dabei sowohl in die dunklen und kahlen Räume wie auch in den großen grauen Hof mit dem Baobab. Der Baum erhob sich mächtig und gespenstisch. Er hatte einen riesigen Stamm, und seine dicken Wurzeln bohrten sich in den von der Trockenheit rissigen Erdboden. Er wirkte majestätisch und beunruhigend zugleich. Den Stamm teilte eine tiefe Spalte: Eine senkrechte Wunde, die sich vom Wurzelgestrüpp bis fast zur ersten Astgabelung hochzog.
»Ich glaube, dieser Baum ist sehr krank, Großvater«, sagte Rokia, während sie weiterlief.
Doch nach ungefähr hundert Schritten blieb sie erschrocken stehen. Ein starker Wind fegte plötzlich durch den Gang, und sie meinte, ihn sogar zwischen den Säulen rauschen zu hören.
Die Äste des Baobabs bogen sich. Im Erdgeschoss begannen die Tiere zu heulen.
Der Wind nahm schnell an Heftigkeit zu und wehte den Saum ihres Gewandes nach oben. Rokia flüchtete erschrocken in ein Zimmer. Das Raunen wurde lauter, und heftig flatternde,
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