Stadt aus Sand (German Edition)
sehen?«
»Ganz genau«, erwiderte Setuké, den diese ständigen Unterbrechungen allmählich verstimmten.
»Was soll das sein?«, grummelte Serou. »Eine Strafe?«
Setuké zwang sich, nicht darauf einzugehen. Die Wüste wurde langsam düster und schwarz, und die Sonne schmolz wie glühend rotes Eisen auf der Horizontlinie. Inogo stellte sich zunächst auf die Zehenspitzen und setzte sich dann aufmerksam neben ihn.
»Vor vielen Jahren …«, begann Setuké sehr leise zu erzählen, »verließen mein Bruder und ich das Dorf, um in diese Richtung zu marschieren.«
Er zeigte Inogo einen Weg, der sich in der Nacht verlor.
»Natürlich war das Matukés Idee gewesen. Er war schon gereist, während ich das Dorf nie verlassen hatte. Wir waren beide noch sehr jung, als wir uns auf die Suche nach dem Roten Kind machten.«
Serou prustete los, doch der ältere Bruder versetzte ihm einen Klaps und gab ihm so zu verstehen, dass das nicht zum Lachen war. Dann setzten sie sich ebenfalls neben Setuké und waren endlich still.
»Matuké hatte auf seiner ersten Reise vom Roten Kind gehört. Aber er fürchtete sich, allein nach ihm zu suchen. Denn das Ganze hatte auch mit mir zu tun. Und mit unserem Vater, eurem Urgroßvater.«
Setuké öffnete das Gefäß mit Weiß, der Farbe des Todes, dann schloss er es wieder.
»Wir machten eine lange Reise. Sie war sehr anstrengend, aber auch sehr wichtig für uns, denn vor dieser Reise hatten mein Bruder und ich einander fünf Jahre lang nicht gesehen. Wir hatten uns viel zu erzählen. Ich sage euch jetzt nicht, was, wo und wie uns etwas zugestoßen ist. Ich sage euch nur, dass wir nach sehr viel Zeit endlich das finden konnten, wonach wir gesucht hatten: den Anfang von allem. Es war eine Hütte. Darin lag ein merkwürdiger Duft, wie von Kornspeichern, wenn sie geleert werden. Es lag etwas in der Luft, was an vergangene Dinge erinnerte. Und da war ein Mann, der nicht begraben worden war. Er war immer noch da, als ob er die ganze lange Zeit auf uns gewartet hätte.«
»Lebte er noch?«, fragte Inogo flüsternd.
»Nein«, antwortete Setuké. »Er war schon seit vielen Jahren tot. Aber sein Skelett saß immer noch im Schneidersitz in der Hütte. Sein Kopf, der gegen die Wand lehnte, schaute geradeaus. Er trug kupferne Armreifen und Überreste von einem ähnlichen Hut wie meinem. Er war ein Hogon . Auf den Knien hielt er einen langen Läufer aus geflochtenen Fasern, auf den er die Geschichte des Roten Kindes gemalt hatte.«
Setuké machte eine lange nachdenkliche Pause, ehe er fortfuhr: »Die Geschichte eines einsamen Kindes mit einer schrecklichen Gabe …«
Er hörte abrupt auf zu erzählen. Der Hogon stand plötzlich auf und zeigte den drei Brüdern eine lange Prozession von leuchtenden Fackeln, die über Wüstensand zogen.
»Wer ist das?«, fragten ihn die drei Brüder.
»Ich fürchte, das sind die Soldaten dieses Kindes«, antwortete Setuké.
DER PALAST
Die Treppe zu Baawas Höhle endete in einem langen Gang, der in den Fels gegraben war.
Irgendwo im Hintergrund brannten Kerzen. Die abgestandene Luft roch nach altem Fleisch, Schimmel und Brackwasser.
Rokia blieb zunächst auf den oberen Stufen liegen und vergewisserte sich, dass niemand dort vorbeikam, bevor sie den Gang betrat.
Alle paar Meter bemerkte sie Löcher in den Wänden, die so groß waren wie Kalebassen und die sie an die Eingänge zu Ameisenbauten erinnerten. Aus diesen Löchern kam abwechselnd ein kalter oder warmer Windhauch, doch sie genügten nicht, um dort unten für frische Luft zu sorgen. Und vor jedem Loch war auf dem Boden eine Lage Stroh ausgebreitet.
Der Gang führte in einen größeren Raum. Dort sah Rokia Baawa in einem verbeulten Zinnbottich sitzen, in dem er singend herumplanschte. Immer wieder schöpfte der Mann mit einer Kelle Wasser, das die Farbe von vergammeltem Fisch hatte. Das schüttete er sich übers Gesicht, wobei er zufrieden die Augen schloss. Ab und an richtete er ein Wort an die beiden Äffchen, die am Badewannenrand entlangliefen und sich gegenseitig aus Spaß mit Wasser bespritzten.
In dem Zimmer waren sonst kaum andere Möbel: zwei Hängematten, ein lumpenbedecktes Strohlager, einige durchgesessene Stühle und ein Tisch aus rohem Holz mit den Geldkörben. Die Decke der Höhle war vom Rauch der Kerzen geschwärzt, und auf dem Boden lag zwischen Stalagmiten und Stalaktiten aus gehärtetem Kerzenwachs jede Art von Müll – Kerzenstumpen, Seilstücke, zerrissene Stofffetzen und
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