Stadt aus Sand (German Edition)
liefen sie beide nach unten.
Als sie das Erdgeschoss erreichten, sahen sie nichts als einen Wald von Beinen, das waren die Wachen, die aufgeregt hin und her liefen.
Dort würden sie niemals hinauskommen.
Also beschlossen sie, noch weiter nach unten zu gehen.
Unbemerkt glitten sie leise über die Stufen.
Sie liefen lange, ohne auf einen weiteren Ausgang zu stoßen. Die Dunkelheit beschützte und begleitete sie und wurde schließlich so undurchdringlich, dass selbst sie mit ihren scharfen Sinnen nicht mehr erkannten, wo die Stufen waren.
Die Treppe fühlte sich jetzt kühler an. Und dann hörte sie ganz auf.
Sie waren am Ende angekommen: Vor ihnen öffnete sich ein langer, enger Gang, der in den Felsen gegraben und am hinteren Ende von einer Eisentür versperrt war, zu hoch und zu massiv, als dass sie sie hätten öffnen können. Hier war es vollkommen dunkel, es herrschte eine schneidende Kälte, und hinter der Tür hörte man ein leises Geräusch, als weinte dort jemand.
Raogo wollte sofort wieder umkehren, diese Kälte und dieses Geräusch jagten ihm Schauer über den Rücken.
Rokia dagegen schnupperte aufmerksam und legte ihr Ohr lauschend an den Boden. Sie konnte dieses ferne Weinen gerade so wahrnehmen, doch deswegen ängstigte es sie nicht weniger.
Wo waren sie hier gelandet?
Rokia wandte sich ihrem Gefährten zu.
Raogo untersuchte den Raum.
Doch dann blieb er plötzlich stehen.
Er hatte etwas gehört.
Die Fackeln in der Wüste waren noch weit entfernt.
Setuké und sein Großneffe standen auf dem Hochplateau der Falaise und beobachteten sie von dort oben. Die kühle Abendluft erfrischte sie, während ihnen zahllose Gedanken durch den Kopf gingen.
Die Flüche, die Ogoibélou und Serou auf ihrem beschwerlichen Weg nach unten ausstießen, brachten sie jedoch schnell wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Wir müssen gehen«, sagte Setuké, »die Nacht währt nicht ewig.«
»Was geschah in der Stadt aus Sand?«, fragte Inogo.
»Als der Fürst aufhörte zu singen«, fuhr der Hogon mit seiner Erzählung fort, »war niemand mehr da, der ihm zuhören konnte. Die Körper der Geschichtensänger lagen auf der Erde. Er hatte ihre Seelen geraubt. Und der Fürst schrie wie ein Wahnsinniger: ›Wer ist jetzt der beste Geschichtensänger, hm? Wer?‹ Um ihn herum auf dem Platz erhoben sich Berge von Sand, die alles einhüllten. Aus diesem Sand baute sich der Fürst seinen Palast. Und er stahl weiter Seelen und trocknete die Gefühle der Menschen aus. Und er ließ ihre Träume versiegen.«
»Und warum schickt er nun seine Soldaten gegen uns?«
Setuké ging vor Inogo in die Knie. »Weil mein Vater ihn vor vielen Jahren herausgefordert und damit seinen Zorn auf sich gezogen hat. Mein Vater glaubte, er wäre im Besitz der Geheimnisse, mit denen er ihn besiegen könnte, nämlich mit der Gabe des Gesangs und weil er den wahren Namen dieses Kindes kannte, das sich nun nur noch Fürst nennen ließ. Er wusste, dass der Fürst Angst vor seinem wahren Namen hatte, und er verwendete ihn, doch das genügte nicht. Wie Matuké und ich später herausfanden, benötigt man noch zwei weitere Dinge, um ihn zu besiegen.«
»Und was?«
Setuké lächelte. »Zwei Dinge, die du besitzt, Inogo.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Jetzt brauche ich dich. Wir alle brauchen dich.«
»Was sind das denn für zwei Dinge?«
»Deine Jugend. Und deinen Mut«, Setuké zeigte auf die Hochebene, die sich nach Westen zog. »Siehst du, wohin die Falaise führt? Und siehst du die zwei Sterne, die dort oben nebeneinanderstehen?«
Inogo nickte.
»Du musst nun deine ganze Kraft zusammennehmen und in Richtung dieser Sterne laufen, bis du die Stadt Tamanè erreichst. Dort musst du sagen, dass man uns Krieger schicken soll, weil der Fürst uns angreift. Denkst du, dass du das schaffst?«
Inogo nickte wieder.
»Du musst bis nach Tamanè laufen und darfst auf keinen Fall umkehren. Vollkommen gleich, wie lange du brauchst, bis du dort ankommst, oder ob du jemanden hinter dir siehst oder zu sehen glaubst. Du musst laufen, um Hilfe bitten und dort bleiben. Und du musst dich an all das erinnern, was ich dir heute Nacht erzählt habe. Wort für Wort. Du musst es dir immer wieder selbst erzählen, damit du es nicht vergisst. Nach mir bist du der einzige Mensch auf der Welt, der diese Geschichte kennt.«
Inogo schluckte schwer.
»Los«, ermutigte ihn Setuké. »Jetzt geh.«
Inogo wandte sich wortlos um und begann zu laufen. Der Blick des Hogon
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