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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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alle Finsternis Eisenheims darin. Ich erschauderte erneut. Das war nicht der Marian, dem ich gerade noch geholfen hatte, den betrunkenen Fluvius Grindeaut in sein Bett zu verfrachten. Und es war auch nicht der, der mich auf einer Bank an der Ruhr geküsst hatte. Dieser Marian sah deutlich älter aus. Erschöpfter. Verzweifelter. Und zorniger. Dieser Marian glich dem, der sich beim Dämmerungstraining ohne ersichtlichen Grund auf Katharina gestürzt hatte. Dieser Marian machte mir Angst.
    Irgendwo in der Ferne ertönte das Kreischen eines Schattenpferdes und ich zuckte zusammen. Auch Marian legte den Kopf in den Nacken, doch am Himmel war weit und breit keines der Wesen zu erkennen. Dafür öffnete sich die Tür der Baracke nun einen Spaltbreit.
    »Ich bin es«, wisperte Marian so leise, dass ich die Worte mehr erahnte, als dass ich sie verstand.
    Sofort wurde der Spalt zu einem Durchlass und in der nächsten Sekunde drängte sich Marian mit eingezogenem Kopf durch den niedrigen Türrahmen. Mit einem dumpfen Geräusch rastete das Schloss ein. Es klang, als würde von innen ein Schlüssel herumgedreht.
    Dann wurde es still. So still, als wäre ich der einzige Mensch, der Nacht für Nacht an diesen seltsamen Ort reiste. Ein paar Minuten lang wartete ich noch, doch Marian kam nicht wieder heraus. Natürlich nicht, damit rechnete ich auch gar nicht.
    Allerdings fragte ich mich, was Marian mit diesen Leuten zu schaffen hatte. Ich versuchte, mir das Gesicht der Frau, mit der er sich damals unterhalten hatte, ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelang mir nicht. Und ich hörte in mich hinein, auf der Suche nach Erinnerungen meiner Seele, die mit diesem Haus zu tun hatten. Vergeblich. Nur das diffuse Gefühl, dass all das irgendwie mit dem Weißen Löwen zusammenhing, nistete sich in mir ein wie ein Parasit. Ich schluckte. Warum gab Marian mir keine Antwort auf meine Fragen? Wie konnte er sagen, dass er mich liebte, und mir gleichzeitig verschweigen, was er mit dieser ganzen Sache zu tun hatte? Und wie hatte ich zulassen können, dass er mich küsste, obwohl ich wusste, er verbarg etwas vor mir?
    Noch immer spürte ich seine Lippen auf meinen, seine Fingerspitzen auf meinem Rippenbogen. Die Erinnerung an seinen Duft hing mir in der Nase und …
    Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen. Nein, ich musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Entschlossen gab ich Sieben ein Zeichen und im selben Augenblick war alles um mich herum in warmes Licht getaucht. Ich schob mich aus dem Spalt zwischen den Baracken hervor und trat auf die schmutzige Straße hinaus. Ein letztes Mal glitt mein Blick über jene armselige Behausung, in der Marian verschwunden war, doch die Tür war und blieb verschlossen. Kein Geräusch drang heraus, nichts regte sich.
    Ich atmete aus und wandte mich ab. Mit langen Schritten bahnte ich mir meinen Weg zurück zum Palast und zwang meine Gedanken, zu dem Zettel in meiner Tasche und dem darauf markierten Ort, der mein nächstes Ziel in der realen Welt sein würde, zurückzukehren. Vielleicht finde ich ja dort die Antworten, die ich brauche, überlegte ich und hoffte sehnlichst, dass eine von ihnen mit dem Haus mit der verklebten Fensterscheibe und dem Jungen darin, den ich liebte, zu tun haben würde.

17
HIMMELSZEICHEN
    Als ich erwachte, stritten Marian und Christabel im Arbeitszimmer. Es war frühmorgens, erst kurz nach sechs. Ihre Stimmen mussten mich aus dem Schlaf gerissen haben.
    »Und wenn sie ihm traut?«, drang Marians Stimme durch die dünne Wand. »Wenn sie ihm mehr traut als uns? Wir hätten ihr die Sache mit Kasimir nicht verschweigen dürfen. Es war doch klar, dass sie irgendwann herausfinden würde, wer ihr Vater ist.«
    »Du weißt, was der Großmeister gesagt hat. Früher oder später kehren ihre Erinnerungen zurück und dann wird sie uns helfen«, erwiderte Christabel.
    Ein Schnauben war nun zu hören. »Da bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich finde, wir sollten sie von ihm wegholen, der Kanzler–«
    »Nein, Marian. Fang nicht wieder damit an. Ich weiß, du traust ihm nicht und –«
    »Ich hasse ihn.«
    »Du bist jung und jetzt denkst du so. Aber Kasimir vertraut dem Kanzler. Ich glaube auch, dass es falsch wäre, wenn er den Stein bekäme. Deshalb will ich ja, dass der Großmeister ihn zerstört. Aber das heißt nicht, dass der Kanzler all das ist und tut, was du ihm unterstellst.«
    »Ich unterstelle es nicht nur …«
    »Genug jetzt. Ich will nichts mehr davon hören. Du musst dich

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