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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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packte er Fluvius Grindeaut bei den Schultern. Ich drängte mich an Katharina vorbei und schlang meine Arme ebenfalls um den Körper des Großmeisters. Gemeinsam wuchteten wir ihn in eine halbwegs stehende Position. Katharina durchbohrte mich mit ihren Blicken. Dann stieß Marian die Tür des Arbeitszimmers auf. Der alte Mann hing zwischen uns wie ein nasser Sack. Seine Füße schleiften über den Boden. Ein Sabberfaden troff aus seinem Mundwinkel und verfing sich in seinem Bart, während er die Augen geschlossen hielt und Unverständliches vor sich hin murmelte.
    Das Zimmer sah genauso aus wie an dem Tag, an dem Fluvius Grindeaut mir hier von meiner Seele und dem Weißen Löwen erzählt hatte. Den Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Schriftstücke häuften, die schweren Vorhänge und den Kamin mit den beiden Sesseln davor kannte ich schon. Doch erst jetzt bemerkte ich die Tür in der Ecke des Raumes, die einen Spalt offen stand. Der Pfosten eines wuchtigen Bettes war dahinter zu erkennen. Und ein zerwühltes Laken.
    Genau dorthin brachten Marian und ich den Großmeister. Es erstaunte mich, wie selbstverständlich Marian ihn zudeckte. So als habe er es schon häufiger getan. Bestimmt sogar.
    Vor meinem inneren Auge flammte von irgendwoher das Bild eines betrunkenen Fluvius Grindeaut auf, der mehr krabbelte, als dass er taumelte, und in der Hand ein Reagenzglas mit einer dunklen Flüssigkeit hielt. Im Hintergrund erkannte ich den gläsernen Wald seines Labors. Direkt hinter dem alten Mann ragte der riesenhafte Baum im Zentrum der Höhle empor. In seinem Wurzelwerk war eine Klappe geöffnet worden, hinter der ich Zahnräder und funkelnde Adern erkannte.
    »Solltestnich hierseinflora« , lallte der Fluvius Grindeaut in meiner Erinnerung. Er verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Dann legte er einen Zeigefinger auf seine Lippen. »Schschsch« , machte er und zwinkerte mir zu, während der echte Großmeister des Grauen Bundes in seinen Kissen hinwegschlummerte wie ein Baby und sich im nächsten Augenblick in Luft auflöste.
    »Trinkt er öfter so viel?«, fragte ich.
    Marian zuckte mit den Achseln und löschte das Licht. »So schlimm wie heute ist es nur alle paar Tage mal.« Er zog die Tür hinter uns zu. »Der Großmeister hat in seinem Leben viel erlebt und nicht mit allem davon kommt er klar.«
    Ich hob eine Augenbraue, aber Marian war wohl nicht zu weiteren Erklärungen aufgelegt.
    »Soll ich dir, äh, helfen, die Sachen aus deinem Zimmer zu transportieren?«, fragte er mit gesenkten Lidern.
    »Pah!«, schnaubte Katharina hinter mir, doch ich beachtete sie nicht.
    Mein Blick hing an Marian, als wäre er dort festgeschweißt worden. In jeder Faser meines Körpers verspürte ich den Impuls, ihm das weißliche Haar aus der Stirn zu streichen. Oder meine Finger mit seinen zu verschränken. Oder ihn zu bitten, mir tragen zu helfen und mit zu meinem Zimmer zu kommen, wo wir endlich wieder allein wären und … An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass Marian das Gleiche dachte.
    Trotzdem schüttelte ich den Kopf. »Schon gut«, sagte ich, senkte ebenfalls die Augenlider und stürzte davon. Das mit uns funktionierte einfach nicht, unser Ausflug in den Zoo hatte es eindrucksvoll bewiesen.
    Ich fand mein Zimmer vor, wie ich es verlassen hatte: ordentlich aufgeräumt, aber voller Kram, an den ich nicht die geringste Erinnerung hatte. Vor allem das Surfbrett in der Ecke ließ mich einmal mehr daran zweifeln, dass meine Seele und ich überhaupt Gemeinsamkeiten hatten.
    Aber das war jetzt nicht von Belang. Wichtig war nur der Brief, der in der Ritze zwischen Matratze und Wand steckte. Mit einem Griff hatte ich ihn gefunden. Auf meinen Knien strich ich das Stück Papier glatt. Satzfetzen in meiner eigenen Handschrift sprangen mir entgegen. »Bitte entschuldige, dass ich dich in unsere Welt gebracht habe … den Weißen Löwen gestohlen … kann dir nicht sagen, wo er sich befindet … Und bis es so weit ist, darfst du niemandem trauen!« Längst hatten sich die Worte in mein Gedächtnis gebrannt. Und auch die Sirene, die unter dem Text prangte, sah genauso aus wie die Abbildung im Bestiarium meines Vaters.
    Allerdings, das fiel mir nun auf, hatte meine Seele außer der Riesenspinne noch etwas anderes gezeichnet. Um den haarigen Körper des Monsters herum war ein Nest aus Linien und Pfeilen zu sehen, die auch ein schraffierter Schatten hätten sein können. Doch das waren sie nicht.
    »Kurt-Schumacher-Brücke«, stand zwischen

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