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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Mädchenkram fandest du immer albern. Seit wann tust du so etwas?«
    »Mit dem Ballett habe ich schon als kleines Kind angefangen«, wisperte ich und wurde mir plötzlich der irritierenden Nähe bewusst, in der Marian vor mir stand. Viel zu nah für einen Austauschschüler. Und auch viel zu gut aussehend für jemanden mit leichenblasser Haut und farblosem Blick. Bisher war ich zu verwirrt gewesen, ich hatte kaum wahrgenommen, mit wem ich da durch Eisenheim spaziert war. Doch nun … Ich erinnerte mich daran, wie er mich angesehen hatte, als er mir all diese Dinge über die Schattenwelt erklärt hatte, gerade so, als könne er es kaum abwarten, mir seine Welt zu zeigen. Und an die Art und Weise, wie er gelächelt hatte, als wir auf der Brücke gestanden hatten, bitter und voller Sehnsucht. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss – du meine Güte, was waren das schon wieder für Gedanken? Entschlossen löste ich meinen Blick von Marians Zügen, blinzelte und presste die Lippen aufeinander. »Im Grunde tanze ich also schon fast mein ganzes Leben lang«, sagte ich rasch und eine Spur barscher als beabsichtigt.
    Marian schien es nicht zu bemerken. »Wirklich? Aber deine Seele …«, murmelte er und hob eine Hand, als wolle er mir eine Haarsträhne aus der Stirn streichen, verharrte dann jedoch wenige Zentimeter vor meinem Gesicht, als er meinem Blick begegnete.
    Er seufzte. »Du bist so anders, Flora. Deine Seele und du, das gleiche Gesicht, die gleichen Augen, das gleiche Lächeln. Sogar das gleiche lose Mundwerk. Und trotzdem seid ihr zwei vollkommen verschiedene Menschen.«
    Ich dachte an das chaotische Zimmer und Marians absurde Vorstellung, ich würde mich an einem Seil durch die Luft hoch über Eisenheim schwingen, und zuckte mit den Achseln. »Sieht ganz so aus.«
    »Ja, allerdings«, sagte Marian und machte dabei eine derart enttäuschte Miene, als wäre mein »neuer«, echter Charakter eine totale Katastrophe.
    Jetzt reichte es aber! Mit einem Schlag waren meine Gedanken wieder vollkommen klar. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, so unsympathisch, finde ich, bin ich ja nun auch wieder nicht.«
    »Nein, aber eben anders, als die Flora, die ich bisher kannte«, sagte Marian und sah mich so fest an, dass ich erschrocken zurückwich.
    »Na und?«, fragte ich. »Dann mag ich eben andere Dinge als diese frühere Version von mir. Was ist so schlimm daran? Ich meine, es ist verwirrend für mich, in diese Welt zu kommen, all diese Leute kennenzulernen und zu erfahren, dass ich schon mein Leben lang ein Doppelleben geführt habe und alle Menschen dies im Grunde tun. Und natürlich ist es unheimlich zu wissen, dass es da mal mein anderes Ich gegeben hat, von dem ich weder weiß, was es genau getan hat, noch warum. Allerdings verstehe ich nicht, was eigentlich dein Problem bei der ganzen Sache ist.«
    »Mein Problem ist, dass … dass …« Er sah mich an, suchte nach Worten. »Mein Problem ist, dass ich dich gar nicht wiedererkenne. Ich dachte, wenn ich dich durch die Stadt bringe und dir alles erkläre … Und nach und nach wirst du dich ja auch erinnern, aber jetzt ist da plötzlich diese andere Person. Du bist verschwunden, Flora, verstehst du das denn nicht?«
    »Nein«, sagte ich schlicht. »Für mich fühlt es sich so an, als wäre ich jetzt erst hier aufgetaucht. Ich bin schließlich die echte Flora. Und ich bin, wie ich schon immer war.«
    Marian wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick brach die Musik ab. Das Mädchen hatte den Bogen gesenkt und starrte mich an. Tränen liefen ihm über die Wangen und hinterließen feuchte Striemen zwischen den dunklen Narben, ein Geflecht aus Trauer und Schmerz.
    »Ähm –«, begann ich, doch Marian hatte mich bereits erneut beim Ellenbogen gepackt und zog mich mit sich durch die Flügeltür.
    »Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte ich, kaum dass wir auf den Gang getreten waren. »Passt dir schon wieder irgendetwas nicht? Wer war das da drin überhaupt? Sie ist sicher nur ein paar Jahre älter als ich und wurde anscheinend ziemlich übel zugerichtet und –«
    »Amadé, die Tochter des Großmeisters«, antwortete Marian knapp.
    »Hatte sie einen Unfall oder so was?«
    »Nein. Komm, ich führe dich erst mal herum und zeige dir alles. Du sollst dich schließlich nicht andauernd verlaufen.« Er setzte sich in Bewegung. »Also, das hier ist der nördliche Trakt, er beherbergt–«
    »Nein?« Ich folgte ihm. »Woher hat sie dann all diese

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