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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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öffneten und einander allesamt so ähnlich sahen, dass ich mir nicht sicher war, ob ich nicht im Kreis ging. Die ganze Zeit über begegnete ich keiner Menschenseele und irgendwann begriff ich, dass ich vermutlich als Einzige noch nicht aufgewacht war. So ein Mist! Bestimmt war es bereits helllichter Tag, vielleicht sogar schon Mittag. Was, wenn ich nun bis zum Abend hier in Eisenheim bleiben musste? Würde meine Familie mich für tot halten? Andererseits stammten die Wandernden doch aus den unterschiedlichsten Zeitzonen der Erde. Warum war also außer mir niemand mehr hier?
    Ich malte mir gerade aus, wie mein Vater einen Krankenwagen rief und ich als Komapatientin auf die Intensivstation gebracht wurde, als ein Geräusch die Stille der Flure durchdrang. Erst war es nur ein einzelner Ton, stark und weich zugleich, wie ein Baum, der sich im Wind wiegte. Dann folgte ein zweiter, tieferer, kaum mehr als ein Brummen. Ein dritter, der sich flüchtig wie Rauchfäden zwischen den anderen beiden hindurchwand. Es war der Klang eines Cellos, das hörte ich gleich. Und als ich kurz darauf den mit dunklem Holz vertäfelten Raum am Ende des Gangs betrat, sah ich die beiden auch, das Cello und das Mädchen, das darauf spielte.
    Sie war blond, etwa Anfang zwanzig und sicher einmal schön gewesen. Mit geschlossenen Augen saß sie da und ließ den Bogen über die Saiten gleiten, während die Finger ihrer anderen Hand über den Hals ihres Instruments strichen, als würden sie tanzen. Das Mädchen hielt den Kopf leicht zur Seite geneigt, sodass das Haar ihm bis zur Hüfte hinabreichte. Nur schwach fiel das Licht der Petroleumlampe an der Wand auf das Gesicht. Doch selbst in ihrem kümmerlichen Schein waren sie zu erkennen, die Narben, die die Haut des Mädchens überzogen, sich über Hände, Hals, Gesicht und vermutlich auch unter dem Stoff ihres Gewandes rankten. Das Geflecht dunkler Striemen zeugte von Schnitten, die tief ins Fleisch gegraben worden waren. Was war ihr zugestoßen?
    Sie bemerkte mich nicht, war versunken in ihr Spiel, in den Klang des Cellos, der auch mich einhüllte. Ich kannte das Stück nicht, doch es erinnerte mich an den Tag, an dem meine Mutter uns verlassen hatte. An die Leere, die ich empfunden hatte, an den offen stehenden Kleiderschrank, aus dem in der Nacht das Nötigste herausgerissen worden war, ein vergessener Pullover, der auf dem Boden davor lag, in der Eile wohl heruntergefallen. Die Musik war jetzt überall, erfüllte den Raum, das Mädchen spielte lauter, führte den Bogen mit einer Kraft, die nicht zu ihrem gebrochenen Körper zu passen schien. Wut lag in ihrem Spiel … und Trauer.
    Die Töne streichelten meine Seele, trieben mir erneut die Tränen in die Augen, und ohne es zu bemerken, war ich mit einem Mal in ein Grand Plié geglitten und von dort aus in einen Sprung, dann in eine Pirouette.
    Ich tanzte.
    Ohne nachzudenken. Ohne auf meine Schritte zu achten. Der Klang des Cellos erfüllte jede meiner Fasern. Auch ich schloss nun die Augen, fühlte die Musik, ließ mich von ihr treiben und spürte, wie alle Anspannung, alle Angst, all meine Fragen von mir abfielen. Es war nicht mehr wichtig, was geschehen war oder wo ich mich befand. In diesem Augenblick zählten nur die Musik und der gleichmäßige Fluss meiner Bewegungen. Ich verlor jegliches Zeitgefühl, glitt dahin wie in einem Traum, tanzte einen Tanz, der niemals enden sollte, es dann aber doch tat. Ganz unvermittelt.
    Vielleicht war eine Stunde vergangen, vielleicht waren es aber auch nur ein paar Minuten gewesen, ich drehte mich gerade in einer weiteren Pirouette, als ich plötzlich gegen jemanden prallte. Hände griffen nach meinen Ellenbogen und bewahrten mich davor zu stürzen. Ich riss die Augen auf.
    Vor mir stand Marian.
    Atemlos starrte ich ihn an. Noch immer hielt er mich. Der Geruch von Holz und Erde stieg mir in die Nase, eine herbe Note hatte sich hineingemischt. Die Bartstoppeln auf seinen Wangen schimmerten im Licht, in seinem Blick lag Erstaunen. Einen Moment lang sahen wir einander an. Sprachlos, umtost vom Klang der Musik.
    Es war Marian, der als Erster die Sprache wiederfand.
    »Das …« Er räusperte sich. »Das hast du früher nie getan«, sagte er und es klang irgendwie enttäuscht, beinahe traurig. Ernst sah er mich an, der Übermut, mit dem er sich noch vor ein paar Stunden an ein von einem Zeppelin herabhängendes Seil geklammert hatte, war wie weggeblasen.
    »Getanzt?«, flüsterte ich.
    Er nickte. »Diesen ganzen

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