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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Narben?«
    »Sie wurde … gefoltert.« Er deutet auf eine Treppe. »Geh da nie runter, dort entsorgen sie den Müll, es stinkt fürchterlich.«
    »Von wem? Warum?«
    »Wir sollten nicht darüber sprechen. Nicht hier. Zu viele Uneingeweihte leben in diesen Mauern.«
    »Was ist passiert?«, fragte ich unerbittlich.
    Marian zögerte, schließlich seufzte er. »Also gut.« Er hielt einen Augenblick inne und sah mir erneut in die Augen. Dann begann er langsam und sehr leise zu sprechen: »Amadé hat geholfen, den Weißen Löwen zu stehlen. Noch im Palast wurde sie erwischt und gefoltert, bis sie verriet, wer den Stein an sich genommen und versteckt hat.«
    »Nämlich ich.« Mir wurde schlecht. Welche unvorstellbaren Schmerzen musste Amadé gelitten haben? Nur um mich nicht zu verraten. Und wie grausam mussten unsere Feinde sein. Erst jetzt begriff ich, was es bedeuten würde, den Männern mit den geflügelten Pferden in die Hände zu fallen. »Aber … ich dachte, das alles wäre erst vor zwei Tagen geschehen. Amadés Wunden sehen älter aus, sie sind doch bereits verheilt und …«, stammelte ich.
    »Der Großmeister hat die Heilung mithilfe der Dunklen Energie beschleunigt. Äußerlich ist Amadé wiederhergestellt, auch wenn die Narben ihr immer bleiben werden. Viel schlimmer aber sind die Wunden in ihrem Innersten. Die kann keine Energie der Welt lindern und vielleicht werden sie niemals heilen«, sagte er und seufzte. »Amadé spricht nicht mehr.«
    Vom Grauen gepackt sah ich ihn an, als könne er etwas sagen oder tun, um all das ungeschehen zu machen. Angst und Verzweiflung drohten mich in einen Abgrund zu reißen. Wo war ich nur hineingeraten? Was war dies für eine Welt? Und warum, verdammt noch mal, erinnerte ich mich an nichts? Nein, eigentlich wollte ich mich auch gar nicht erinnern, erkannte ich. Ich wollte fort.
    »Es ist nicht deine Schuld«, beeilte sich Marian zu sagen. »Und ich wünschte, du hättest Amadé nicht gesehen.« Dieses Mal strich er die Haarsträhne tatsächlich hinter mein Ohr. Die Berührung fühlte sich tröstlich an, doch ich wich instinktiv vor ihr zurück. Marian tat, als habe er es nicht bemerkt. »Du brauchst keine Angst zu haben, okay? Ich werde dich beschützen«, erklärte er.
    Ich schüttelte den Kopf. »Sag mir einfach, was ich tun muss, um endlich aufzuwachen aus diesem Albtraum. Ich will zurück in die richtige Welt, das ist alles.«
    Marian senkte den Blick. »Das kannst du nicht steuern«, sagte er. »Du kannst nur warten.«

7
DÄMMERUNGSTRAINING
    Den ganzen nächsten Tag über dachte ich nicht an die Schattenwelt. Das heißt, doch, einmal kurz nach dem Aufwachen, als ich die metallene Sichel, die der Bettler mir geschenkt hatte, auf meinem Nachttischchen entdeckte. Ich fragte mich, wie sie dort wohl hingekommen war. Wenn ich es richtig verstanden hatte, sollte das Ding ja so eine Art Talisman sein, oder? Ich hatte noch nie an die Kraft von Glücksbringern geglaubt, trotzdem steckte ich die Sichel in die Tasche meiner Jeans, als ich mich wenig später (es war bereits Mittag und ich musste mich beeilen, weil ich verschlafen hatte) auf den Weg in die Innenstadt machte. Schließlich hatte ich bisher auch die Existenz von geflügelten Pferden für unmöglich gehalten.
    »Ich habe schon mindestens sieben Outfits für dich entdeckt«, rief Wiebke mir entgegen, kaum dass ich den Kennedyplatz im Herzen der City betreten hatte. Im Winter richteten sie hier immer eine Schlittschuhbahn ein, doch jetzt war der Platz übersät von den Tischen und Stühlen der Cafés, die ihren Besuchern die Gelegenheit boten, die letzten Sonnenstrahlen des Jahres zu genießen. Ich schlängelte mich zwischen Latte Macchiatos und Fruchteisbechern zu Wiebke hindurch und wurde im selben Augenblick in ihr verrücktes Shoppinguniversum aus Glitzernagellack und Pulloverkleidern gesaugt. Ein Umstand, der mir heute gar nicht so unwillkommen war.
    Gemeinsam tauchten wir in die Tiefen der Fußgängerzone ein, und während Wiebke mir mit leuchtenden Augen ein Kleidungsstück nach dem anderen anhielt, spürte ich, wie ich immer entspannter wurde. Auch wenn es anstrengend war, sich gegen den Kauf von untragbaren Handtaschen und Riesenohrringen zu behaupten, der Samstagsnachmittag, die Schlangen an den Kassen, der Lärm auf den Straßen, Wiebkes Ideen, das alles machte mich froh, weil es so normal war.
    Und nach fünf Stunden, gefühlten dreihundert Geschäften und etwa einer Million Anproben besaß ich neben ein paar

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