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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Hoffentlich.
    Ich kroch unter die Decke, zog sie mir bis zur Nasenspitze hinauf, schloss die Augen und wartete.
    Wartete.
    Wartete noch immer.
    Vergeblich. Der Schlaf wollte nicht kommen, wie sehr ich ihn auch herbeisehnte. Es war zwecklos. Meine Güte, wieso konnte ich denn nicht endlich aufwachen? Ich warf mich zur Seite, knautschte das Kopfkissen zu einem Ball und … stutzte. Denn etwas hatte geraschelt, ein Stück Papier. Oh nein, nicht noch mehr Müll, schoss es mir durch den Kopf. Ich schob die Finger in den Spalt zwischen Matratze und Wand und angelte einen zusammengefalteten Zettel daraus hervor. »Für Flora«, stand darauf, ordentlich geschrieben in meiner eigenen Handschrift.
    Ich brauchte einen Moment, um wieder Luft holen zu können, dann strich ich den Brief auf der Bettdecke glatt und las.
     
    »Liebe Flora,
    dies ist eine Nachricht für Dich, mein reales Ich. Bitte entschuldige, dass ich Dich in unsere Welt gebracht habe, das ist sicher nicht einfach für Dich. Doch es ging nicht anders, glaub mir. Wenn Du das hier liest, ist es bereits geschehen. Ich bin in den Buckingham-Palast eingebrochen und habe den Weißen Löwen gestohlen und versteckt. Er muss zerstört werden! Doch ich kann Dir nicht sagen, wo er sich befindet, genauso wenig wie so vieles, was ich Dir gern erklären würde. Aber es wäre zu gefährlich. Dieser Brief könnte in die falschen Hände fallen. Deshalb musst Du warten. Warte auf Deine Erinnerungen, dann wirst Du wissen, was zu tun ist. Und bis es so weit ist, darfst Du niemandem trauen! Unter keinen Umständen, hörst Du? NIEMANDEM. Nicht einmal Dir selbst.
     
    Deine Flora
    PS Nun liegt es an dir.«
     
    Unter den Text hatte mein anderes Ich etwas gezeichnet, einen Kreis mit einer Spinne darin. Ihre Beine waren behaart und aus dem Maul ragten lange Säbelzähne, während Linien und Pfeile um sie herum ein seltsames Muster bildeten. Im Zeichnen war ich noch nie gut gewesen. Doch ich wunderte mich weniger über die Spinnenskizze als über die Tatsache, dass ich selbst mir eine Nachricht hinterlassen hatte. Wieder und wieder las ich den Brief, er klang nach mir, es war meine Handschrift. Und doch erinnerte ich mich nicht daran, ihn geschrieben zu haben. Vertraut und doch fremd lag der Brief in meinen Händen. Es war gruselig. So musste sich jemand fühlen, der gerade feststellt, dass er an Schizophrenie leidet, überlegte ich und spürte, wie mir eine bittere Übelkeit den Hals hinaufkroch.
    Der Ratschlag, niemandem zu vertrauen, machte es nicht gerade besser.
    Schweißperlen traten mir auf die Stirn. Das alles hier war zu viel für mich. Ein Zittern durchlief meinen Körper, das sich verdächtig nach Panik anfühlte. Nein, ich durfte nicht zulassen, dass ich den Kopf verlor. Meine eigene Handschrift! Ein Brief von mir selbst! Genug, ich würde mich einfach weigern, weiter darüber nachzudenken.
    Hastig steckte ich den Papierbogen wieder zurück in seinen Spalt und zog mir die Bettdecke über den Kopf.
    Wirklich, ich wollte jetzt bitte gerne aufwachen. Meine Hände waren eiskalt, ich spürte, wie sich eine Träne aus meinem Augenwinkel stahl und mir über Wange und Hals bis in die Kuhle lief, in der sich meine Schlüsselbeine trafen. Bedrückt schlang ich die Arme um die Schultern, weil plötzlich eine Welle der Einsamkeit über mich hinwegrollte, und dachte an zu Hause, meine Familie, Wiebke. Wie sehnte ich mich danach, mit Wiebke den versprochenen Einkaufsbummel zu unternehmen! Wann würde dieser Albtraum nur endlich ein Ende haben?
    Gab es einen Trick, wie man sich selbst wieder in die reale Welt befördern konnte? Irgendetwas, was man tun oder sagen musste? Etwas, was man mir zu erklären vergessen hatte, weil ich es gestern zufällig richtig gemacht hatte? Ja, das muss es sein, überlegte ich und schlüpfte auf den Gang hinaus, um jemanden zu suchen, den ich fragen konnte. Besser, ich tat etwas, ehe diese Schlafende-Wandernde-Geschichte und die Vorstellung, ein anderes Ich mit einem geheimen Leben gehabt zu haben, mich endgültig wahnsinnig machten.
    Leider kamen zwei Dinge zusammen, die mein Vorhaben erschwerten: Erstens war Notre-Dame zu dieser Uhrzeit anscheinend nicht gerade bevölkert. Zweitens war der für den Innenausbau zuständige Architekt wohl kein Freund von Geometrie gewesen oder von Fluren, die irgendwohin führten. Eine Ewigkeit, so kam es mir vor, irrte ich durch das Gemäuer, durch Korridore und Treppenhäuser, die sich ab und an zu Räumen oder Sälen

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