Stadt aus Trug und Schatten
gleichzeitig tat ich es doch. Neben mir beugte sich mein Körper noch immer über den Chemietest. Wie versteinert wirkte er. Das Haar fiel mir ins Gesicht wie ein Vorhang, Tinte tröpfelte aus der Spitze meines Füllers auf das Papier. Mich selbst zu sehen, war gruselig, vor allem weil ich mich fragte, ob ich von hinten wirklich so kindlich aussah. Wie eine Zwölfjährige unter lauter Erwachsenen. Wiebke, die neben mir saß, war mindestens einen Kopf größer als ich. So krass war mir der Unterschied noch nie aufgefallen.
Aber noch viel gruseliger war meine neue Gestalt. Schaudernd betrachtete ich meine Hände, aus denen jede Farbe gewichen war. Gut, diesen gräulichen Hautton kannte ich bereits aus der Schattenwelt. Das Flackern hingegen war neu. Es war ekelig. Andauernd durchlief ein Zittern meine Konturen, mal waren meine Fingernägel durchsichtig, dann wieder tiefschwarz. Ein Flimmern überzog meine in Strumpfhosen steckenden Beine. Ich kam mir vor, als wäre ich einem schlechten Fernsehsignal entsprungen, bei dem das Bild immer wieder verschwand oder in ein Negativ umschlug.
Doch ich hatte es geschafft. Ich war ein Schatten.
Erneut schaute ich aus dem Fenster. Marian war noch da und ihm schien nicht entgangen zu sein, was in unserem Klassenzimmer geschehen war. Zaghaft hob er die Hand, als wollte er mir zuwinken. Dann ließ er sie jedoch wieder sinken.
»Flora«, flüsterte er noch einmal.
Niemand bemerkte es, als ich mich durch den Raum bewegte. Meine Schritte verursachten keinerlei Geräusche, mein Körper ließ nicht den kleinsten Luftzug entstehen. Ich war dort und ich war nichts, wie ein Geist, der zwischen den Sitzreihen hindurchhuschte. Lautlos glitt ich zur Fensterbank und stieg hinauf. Ich wollte die Hände an die Scheibe legen, doch ich fühlte das Glas nicht, weder war es kalt, noch war es hart. Wie ich selbst war auch das Glas dort und war nicht zugleich. Meine Fingerspitzen tauchten darin ein, schon fühlte ich den Herbstwind, der über meine Haut strich. Meine Füße schoben sich durch den Fensterrahmen. Ich schloss die Augen, holte Luft, als wollte ich tauchen, dann glitt das Glas über mein Gesicht, zähflüssig, wie Honig perlte es von meinen Wangen. Nun stand ich draußen auf dem schmalen Sims, mein Schattenhaar flatterte. Der Reiter auf der Sporthalle ruckte leicht den Kopf, dann notierte er sich etwas in einem Notizbuch. Marian sah mir vom Dach gegenüber entgegen, zwischen uns gähnte der Schulhof und ich fragte mich unaufhörlich das Gleiche: Kann ich fliegen?
Christabel und Marian hatten es getan, das hatte ich gesehen, mehr als einmal. Ich fühlte die Kante unter meinen Ballerinas und die Leere darunter. In einem Anflug von Panik presste ich mich an das Fenster hinter mir und schon glitt ein Teil meines Hinterkopfes zurück durch das Glas. Dann traf Marians Blick den meinen wie ein Blitz und meine Angst verschwand so rasch, wie sie gekommen war. Ich zögerte nicht länger, sondern sprang.
Dummerweise. Denn ich konnte nicht fliegen. Wie ein Stein sauste ich dem Abgrund entgegen. Immer näher kam der rötliche Belag des Schulhofes. So eine Scheiße! Das war ein Köpper aus dem vierten Stock gewesen. Es war Selbstmord! Oder würde ich mir nur alle Knochen brechen? Wäre das überhaupt ein Problem? Mein echter Körper saß immerhin sicher an seinem Platz.
Während ich darüber nachdachte, veränderte sich mein Fallen. Es dauerte einen Augenblick, bis es mir auffiel, doch mitten in der Luft war ich langsamer geworden. Wie ein Blatt segelte ich jetzt in Richtung Boden, mal ein Stück nach links, dann wieder nach rechts … und schließlich hörte es ganz auf. Still hing ich auf Höhe der ersten Etage in der Luft, die sich plötzlich gar nicht mehr so luftig anfühlte. Eher wie Watte. Wie feste Watte. Oder wie Stein. Vorsichtig machte ich einen Schritt nach vorn und staunte: Die Luft trug mich so sicher wie der Erdboden. Wo immer ich meinen Fuß hinsetzte, wurde sie unnachgiebig. Wie auf einer Treppe bewegte ich mich langsam nach oben auf Marian zu.
Er lächelte, als ich mich neben ihm auf die Dachkante setzte, und deutete auf meine im Klassenzimmer gegenüber sitzende Gestalt. »Ich habe nie gewusst, dass dein Haar einen rötlichen Schimmer bekommt, wenn die Sonne daraufscheint«, murmelte er. »Das passt zu deinem Temperament.«
Ich erwiderte nichts und Marian wurde wieder ernst.
»Du kannst mir also nicht trauen«, stellte er fest.
»Nicht mehr«, sagte ich. »Du hast mich
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