Stadt aus Trug und Schatten
belogen, ihr alle habt das getan.«
Er zögerte. »Nein, wir –«
»Ihr wusstet, dass mein Vater der Schattenfürst ist, oder?«
Marian biss sich auf die Lippe. »Schon, aber –«
»Keiner von euch hat es mir gesagt. Keiner! Und ich frage mich: Warum nicht? Weshalb habt ihr es mir verschwiegen?«
»Weil …« Marian suchte nach Worten. »Weil wir dachten, du würdest dann nicht mehr auf unserer Seite stehen.«
Ich lachte. »Verstehe. Da ist es natürlich viel klüger, mich zu belügen und darauf zu warten, dass ich es zufällig selbst herausfinde. So was schafft echtes Vertrauen … Ihr wolltet mich gegen meinen Vater ausspielen«, rief ich. Am Rande bemerkte ich, wie mein Mundwerk mit mir durchging, aber ehrlich gesagt war es mir in diesem Augenblick auch herzlich egal. »Wahrscheinlich hast du dir das mit uns auch nur ausgedacht. Dass du mich liebst, meine ich. Du dachtest, du nutzt deinen Charme, um mich um den Finger zu wickeln! Damit ich das mache, was du und dein blöder Großmeister –«
»Nein!«, entfuhr es ihm. »So war das alles nicht. Was ich für dich empfinde, ist … Diese ganze Sache ist so kompliziert. Und außerdem: Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass der Fürst ausgerechnet, als du gerade hinsiehst, die Maske abnimmt?«
Ich funkelte ihn an und Marian verstummte. Plötzlich legte sich wieder diese Verzweiflung auf seine Züge, die mich bereits von Weitem so erschüttert hatte und nun erneut etwas in mir zum Klingen brachte.
»Wir haben dir nur diese eine Sache verschwiegen. Alles andere, was wir dir erzählt haben, ist wahr. Deine Seele hat den Stein für uns gestohlen und versteckt. Du warst und bist eine von uns, eine Kämpferin des Grauen Bundes, Flora.« Er sah mir in die Augen. »Und ich liebe dich.«
Ich spürte, dass er die Wahrheit sagte. Dennoch zog ich meine Hand zurück, als er sie ergreifen wollte. »Was hat es mit diesem Stein auf sich? Warum will Fluvius Grindeaut ihn zerstören? Und was hat mein Vater damit zu tun? Welche Rolle hat meine Seele in dieser Sache wirklich gespielt? Verstehst du nicht, dass ich das alles erst herausfinden muss, bevor ich mich auf eine Seite stellen kann? Im Moment weiß ich ja nicht einmal, wie viele Seiten es gibt.«
Marian seufzte. »Viele sind hinter dem Weißen Löwen her, nicht nur dein Vater, der ihn zurück in seine Schatzkammer stecken will, auch … andere. Aber glaub mir: Was Fluvius Grindeaut sagt, stimmt. Der Stein muss zerstört werden. Ich wollte das selbst lange nicht einsehen. Doch die Kraft, die ihm innewohnt, ist zu gefährlich. In den falschen Händen könnte er das Gefüge unserer Welt aus den Angeln heben. Das Gefüge beider Welten.«
»Wie?«, fragte ich.
»Soweit ich das verstanden habe, sorgt die Kraft des Steines dafür, dass die Dunkle Materie nicht länger an die Schattenwelt gebunden ist und die reale nicht mehr an diese hier. Bei einer Vermischung der Materienarten könnte alles Mögliche geschehen und nicht alles davon müsste schlecht sein. Aber zu viele falsche Hände strecken sich zurzeit nach dem Weißen Löwen aus.«
Ich öffnete den Mund, um nachzufragen, was er damit genau meinte. Von wem sprach er? Doch Marian ließ mich nicht zu Wort kommen. Er ahnte bereits, was ich sagen wollte.
»Ich glaube, es ist der Kanzler, der etwas vorhat«, beantwortete er meine unausgesprochene Frage. »Aber ich weiß es nicht mit Sicherheit, Flora. Und es ist auch nicht wichtig. Nur eines steht für mich fest: Fluvius Grindeaut ist ein weiser alter Mann, und was immer er tut, seine Absichten sind edel.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragte ich und beobachtete, wie sich der harte Zug um seinen Mund tiefer in seine Haut grub. Marian wollte etwas sagen, doch die Worte schienen sich zu weigern, ihm über die Lippen zu kommen. Er räusperte sich.
»Meine Eltern starben, als ich sehr klein war, Flora. Sie wurden … ermordet. Einfach so, an einem Sommertag, mitten in unserem Ferienhaus. Wandernde, die für all unsere Nachbarn unsichtbar über uns herfielen und … Plötzlich war ich ganz allein auf der Welt. Doch der Großmeister nahm mich bei sich auf, er kümmerte sich um mich wie ein Vater und er bildete mich zu einem seiner besten Kämpfer aus. Ich habe ihm alles zu verdanken. Ich kenne ihn und deshalb weiß ich: Wenn Fluvius Grindeaut sagt, der Stein muss zerstört werden, dann ist das so. Deine Seele hat ihm auch geglaubt, vergiss das nicht.«
Ich nickte langsam. »Vielleicht«, sagte ich und strich mir
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