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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Teile des Radweges. Der dumpfe Klang ihrer Schritte vermischte sich mit dem Geruch von Gras und Regen, der einige Meter weiter von den Abgasen und dem Lärm der Autos verschluckt wurde, die über die Kurt-Schumacher-Brücke rauschten, hinter der der Stadtteil Überruhr begann.
    Ich wollte zwar nicht nach Überruhr, doch die Brücke interessierte mich trotzdem. Vorsichtig stakste ich durch das Ufergras. Es war feucht, immer wieder glitt ich mit meinen Sneakers darauf aus, und als ich einer Entenfamilie ausweichen musste, wäre ich beinahe gestürzt. Irgendwie schaffte ich es dann aber doch bis zu den schmutzigen Betonpfeilern der Brückenkonstruktion, die leicht vibrierten, während der Verkehr darüber hinwegdonnerte. Im Zwielicht erkannte ich Graffiti und das, was ich suchte: Spinnen.
    Ekelige, fette Brückenkreuzspinnen.
    Sirenen?
    Sie hatten ihre Netze hoch oben über meinem Kopf gesponnen, in den finstersten Winkeln der Pfeiler. Ihre Leiber waren so groß wie Zweieuromünzen, ihre Beine muskulös und behaart. Unschlüssig betrachtete ich sie. Die Sirene ist das Seelentier der Brückenkreuzspinne, hatte auf der Steintafel im ehemaligen Bestiarium meines Vaters gestanden und irgendwas von zuverlässigen Geheimnisträgern. Ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, was ich jetzt machen sollte. Aber es musste schließlich einen Grund gehabt haben, weshalb meine Seele eines dieser Viecher auf den Brief an mich gezeichnet hatte. Vielleicht hatte mein Schatten-Ich den Spinnen ja eine weitere Nachricht für mich hinterlassen. Etwas, was mir weiterhelfen würde.
    »Äh«, begann ich und richtete meinen Blick auf das größte Exemplar direkt über mir. Wie seine Artgenossen saß es vollkommen reglos in seinem Netz. »Hallo … Sirenen?« Ich kam mir dämlich vor. Wie Wiebkes Großtante, die andauernd Selbstgespräche führte und unter der Couch nach ihrem Kater suchte, der bereits vor Jahren gestorben war. Aber was hätte ich sonst tun sollen?
    »Äh, könnt ihr mich hören? Seid ihr Sirenen?«, versuchte ich es, warf einen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass man mich vom Weg aus vermutlich nicht sehen konnte. Das Ganze war mir vor mir selbst schon peinlich genug. Ich meine, ich redete gerade mit Spinnen\ Spinnen, die nicht einmal zu registrieren schienen, dass ich da war.
    Oder etwa doch?
    War da nicht plötzlich so ein feines Sirren in der Luft? Ich meinte zu erkennen, wie die haarigen Körper über mir eine Spur dunkler wurden, während das Geräusch zu einem Summen anschwoll. Es war ein schrilles Summen, das allmählich in ein Kreischen überging.
    Und dann waren sie plötzlich da. Wie alter Zigarettenrauch lösten sich die Schattengestalten von den Spinnenkörpern am Brückenpfeiler.
    Sirenen.
    Fünf.
    Vor Schreck taumelte ich mehrere Schritte rückwärts in Richtung Wasser. Die Weibchen erreichen eine Größe von bis zu eineinhalb Metern, die Körper der Männchen werden selten länger als einen Meter, schoss es mir durch den Kopf. Es war mein einziger Gedanke in diesem Moment der Angst. Die Sirenen waren schlimmer als die Schattenreiter, viel schlimmer. Aus 45 milchigen Augen beobachteten sie mich, ihre Säbelzähne waren länger als mein Unterarm, ihre Beine so dick wie meine. Ein Flackern umspielte die borstigen Leiber. Es stimmte also: Auch die Seelen der Tiere konnten sich in der realen Welt von ihren Körpern lösen! Flüchtig dachte ich daran, wie ich dem Hund der Nachbarn in Zukunft begegnen sollte und welche Seele sich unter seinem gepunkteten Dalmatinerfell verbergen mochte. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die monströsen Wesen vor mir. Sie waren wirklich ekelig und wirkten leider auch nicht gerade ungefährlich.
    »Mein Name ist Flora Gerstmann«, krächzte ich. »Haben … Sie eventuell eine Nachricht für mich?«
    Statt zu antworten, begannen die Sirenen zu schreien. Oder zu singen? In jedem Fall war das, was sie taten, grauenhaft. Es war ein Kreischen, das einem durch Mark und Bein ging, lauter als alles, was ich je gehört hatte. Hätte ich nicht wie versteinert dagestanden, ich hätte mir die Ohren zugehalten. Aber dazu war ich viel zu perplex. Die Wesen vor mir waren kein Ungeziefer.
    Sie waren Raubtiere.
    Die Erkenntnis meiner eigenen Dummheit traf mich in dem Augenblick, in dem die Sirenen sich regten. Donnernd knackten sie mit ihren Kiefern. Dann stürzten sie sich auf mich mit der Geschwindigkeit eines Jaguars. Ich hatte nicht den Hauch einer Chance. Schon spürte ich

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