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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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…«, stammelte ich. »Ich … ich muss ein paar Dinge klären. Und ich muss es allein tun.«
    »Du hast das Gefühl, du müsstest dich ganz allein einer Horde Riesenspinnen zum Fraß vorwerfen?« Er hob eine Augenbraue und sah plötzlich unheimlich süß aus.
    Ich zwang mich, eine Stelle irgendwo neben seinem Gesicht anzusehen. »Du verstehst das nicht. Überlege doch: Meine Seele hat den Weißen Löwen gestohlen, also wollte sie nicht, dass der Kanzler ihn bekommt, richtig?«
    »Ja.«
    »Aber sie hat den Stein anschließend nicht zu Fluvius Grindeaut gebracht, damit der ihn zerstören kann. Stattdessen hat sie ihn irgendwo versteckt und ich frage mich, wieso.«
    »Vermutlich, weil keine Zeit mehr war, ihn bis nach Notre-Dame zu schaffen. Der Kanzler und seine Männer haben dich immerhin gejagt.«
    »Schon«, sagte ich langsam. »Aber anschließend habe ich mich aufgeweckt und all meine Erinnerungen gingen verloren. Angeblich, um mein reales Ich zu schützen. Allerdings frage ich mich mittlerweile, ob nicht die verlorenen Erinnerungen selbst geschützt werden sollten. Vielleicht wollte ich gar nicht, dass der Stein zerstört wird. Möglicherweise hatte ich ja etwas anderes mit ihm vor.«
    »Was hätte das sein sollen?« fragte Marian tonlos. Es sah mich nicht an, sondern betrachtete die Spitzen seiner Schuhe. »Und überhaupt: Warum sollte deine Seele plötzlich nicht mehr auf unserer Seite gestanden haben?«, murmelte er.
    »Tja, das ist die Frage. Deshalb bin ich zu den Sirenen gegangen. Ich hatte im Palast etwas darüber gelesen, dass sie sogenannte Geheimnisträger wären.«
    Marian hob den Blick, das Grün seiner Augen blitzte mir entgegen. »Ach, das sind doch nur Legenden. Märchen, an die wir früher einmal geglaubt haben.« Lachend strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »In der Schattenwelt gibt es wohl einiges, was dir wie Zauberei vorkommt, Flora. Aber echte Magie und geheimnishütende Fabelwesen existieren selbst bei uns nicht.« Seine Finger streiften meine Schläfe noch einmal, und ohne dass ich darüber nachdachte, schmiegte ich meine Wange in seine raue Handfläche.
    Nur ganz kurz, dann zuckte ich zurück.
    »Hätte ja sein können«, sagte ich. »Die Schattenwelt ist so seltsam, da würde mich nichts überraschen.«
    »Gar nichts?« Seine Stimme klang plötzlich weich, wie flüssiger Honig. Er zwinkerte mir zu und ich spürte, wie ich sein Lächeln erwiderte. Einen Augenblick lang hing es zwischen uns wie ein Versprechen. »Du rechnest also mit allem und jedem? Jederzeit? Es gibt nichts, was dich aus der Ruhe bringen könnte?«
    »Du kannst es ja mal versuchen.« Ich sah ihm jetzt direkt in die Augen und erkannte mich selbst nicht wieder. Du meine Güte! Ich flirtete wieder mit Marian! Dabei war diese Sache mit uns doch schon längst abgehakt, oder? Und außerdem hatte ich gerade wirklich andere Sorgen. Erst denken, dann reden, sollte ich das denn niemals lernen? Es würde alles so viel einfacher machen, ich hatte doch überhaupt keine Zeit für Jungs. Zum Beispiel musste ich weitaus dringender darüber nachdenken, wie und wo ich etwas über den Diebstahl und die Pläne meiner Seele herausfinden konnte, nun, da die Sirenen sich als Reinfall entpuppt hatten. Doch ich tat es nicht.
    »Nun, du hast es nicht anders gewollt.« Marians Hand schloss sich um meine. Und dann gab es plötzlich nichts mehr außer ihm und mir. Wir sahen einander an, schweigend, während der Abstand unserer Gesichter dahinschmolz wie ein Eiswürfel in der Wüste. Genau wie damals im Flur vor dem Marmorsaal in Notre-Dame. Mein Herzschlag beschleunigte sich auf die gefühlte Frequenz eines Kolibriflügelschlags.
    Marians Atem traf meinen Mundwinkel. Sein Daumen fuhr die Linie meines Halses nach, und wo seine Finger meine Haut berührten, breitete sich Hitze aus. Ein Schauer durchlief mich. Mein Kopf war leer, kein einziger Gedanke an den Weißen Löwen war noch übrig geblieben. Ich dachte weder an die Sirenen noch an Eisenheim. Marians Haut war alles, was ich noch wahrnahm, als meine Hand über seine Wange glitt. Ich spürte die Bartstoppeln unter meinen Fingerspitzen und schloss die Augen. Ganz vorsichtig, mit einer Schüchternheit, die ich Marian gar nicht zugetraut hätte, legte er seine Lippen auf meine.
    Zuerst war der Kuss so zart wie das Fallen einer Schneeflocke, doch dann wurde er langsam wärmer, ein dunkles Glühen, fordernd und verheißungsvoll. Marian zog mich an sich und ich presste mich an seine Brust.

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