Stadt aus Trug und Schatten
nicken.
»Also gut«, sagte Marian mit unheilschwangerer Stimme, drehte mich zu sich herum und sah mir in die Augen. Plötzlich war sein Mund meinem wieder ganz nah. »Aber vorher holen wir uns ein Eis.«
»Was?« Ich kicherte.
Flüchtig strich er eine Haarsträhne hinter mein Ohr. »Ein Eis«, wiederholte er grinsend und zog mich mit sich in Richtung eines kleinen Verkaufstandes, wo ich, ohne Marian zu Wort kommen zu lassen, für uns beide mit Brause gefülltes Wassereis bestellte.
Marian probierte als Erster. »Uh, sauer.« Er verzog das Gesicht, doch seine Augen strahlten.
Vorsichtig hielt ich meine Zungenspitze an das leuchtend blaue Eis und fand den Geschmack … gewöhnungsbedürftig, aber in Ordnung. Ich zuckte mit den Achseln. »Vermutlich besteht es zu 99 Prozent aus künstlichen Farbstoffen und Chemieabfällen, aber ansonsten … Wer Fischgedärme im Brotteig isst, sollte das hier ja wohl auch vertragen können.«
»In Kalakukko sind doch nicht wirklich Gedärme!«
»Jaja.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und wohin jetzt? Kommen wir nun zum«, ich schluckte, »gruseligen Teil des Ausflugs?«
»Wir sind sogar schon da.«
»Ach?« Ich sah mich um. Mittlerweile hatten wir den der Polarregion zugewiesenen Teil des Zoos erreicht. Genauer gesagt das Gehege eines Eisbären, der sich gerade auf einem Felsen die Sonne auf den Pelz scheinen ließ.
Und Marian hatte wieder diesen Ausdruck in den Augen, wie neulich, als wir vor dem Nichts gestanden hatten. Sehnsucht nach dem Verderben, schoss es mir durch den Kopf. Der Geschmack des Eises in meinem Mund vermischte sich mit einer bitteren Vorahnung, als Marians Schatten sich neben mir von seiner Gestalt löste.
»Warte!«, krächzte ich, doch es war bereits zu spät.
Flackernd glitt Marians Schattengestalt durch die Zentimeterdicke Plexiglasscheibe des Geheges, schwebte über den Wassergraben und landete auf dem Felspodest des Bären, der ihm träge entgegenblinzelte. Sehr langsam hob sich sein rechtes Augenlid und gab den Blick auf eine schwarz schimmernde Pupille frei, dann schloss es sich wieder. Marians Schatten näherte sich dem Raubtier bis auf wenige Meter, wobei er merkwürdig schnalzende Laute von sich gab. Dann duckte er sich hinter einen Felsvorsprung und wartete.
»Komm raus da«, wisperte ich, doch Marians Schatten schüttelte den Kopf und deutete auf den Bären, an dessen Rückenfell sich ein schwärzliches Flackern gebildet hatte, das sich rasch ausbreitete. »Nein!«, stieß ich hervor. Im nächsten Moment ließ ich vor Schreck mein Eis fallen.
Denn plötzlich stand er da.
Der Schatten des Polarbären, bei dem es sich ebenfalls um einen Bären handelte, jedoch …
Von einem dunklen Flimmern durchzogen und riesig wie ein Haus, thronte der Bärenschatten auf seinem Felsen, die Pranken so groß wie Kleinwagen, die Augen von einem zornigen Funkeln erfüllt. Während sein winziger Körper weiter zu dösen schien, grollte das Seelentier drohend. Das Wasser im Graben zwischen uns erzitterte, genau wie ich, als ich die drei hintereinander angeordneten Reihen von Zähnen in seinem Maul entdeckte. Am groteskesten jedoch war der Anblick seines Rückens, aus dem, ebenso wie bei den Schattenpferden, gefiederte Flügel wuchsen, deren Spitzen deutlich über die Plexiglasabgrenzungen des Geheges hinausragten.
Der Schattenbär hob die Nase und witterte.
Ich spürte, wie sich meine Fingernägel in meine Oberschenkel gruben. Inzwischen hatte Marian sein Versteck verlassen und war, ganz Extremsportler, an der gegenüberliegenden Felswand einige Meter in die Höhe geklettert. Der Bär schwenkte suchend den mächtigen Kopf hin und her, doch noch hatte er den Störenfried nicht entdeckt.
»Bitte!«, flüsterte ich. »Komm weg von diesem Ding.«
Marian zwinkerte mir zu. »Wart’s nur ab«, formten seine schwärzlichen Schattenlippen, während er sich noch ein Stück in die Höhe zog und einen Wimpernschlag später fallen ließ. Wie eine Spinne landete Marian im Nacken des Bären und klammerte sich fest. Das Seelentier brüllte, buckelte. Mit einer Pranke versuchte es, Marian von sich zu stoßen, doch es erreichte ihn nicht und heulte auf vor Wut. Es war ein tiefer, lang gezogener Laut, der jede Faser meines Körpers erbeben ließ.
Mehrere Sekunden lang war ich wie erstarrt. Reglos beobachtete ich, wie sich der Schattenbär vom Boden abstieß und in den gräulichen Himmel erhob, wo er mehrere schwindelerregende Loopings drehte, ehe er plötzlich
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