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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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vielleicht lag es aber auch an dem ernsten, stets etwas wehmütigen Ausdruck in seinen Augen, der selbst jetzt da war.
    »Bisher hast du nie eine Schwester erwähnt«, bohrte ich weiter. Den Mund zu halten, war eben nicht meine Stärke.
    Marian seufzte und gab mir einen Kuss aufs Haar. »Es hat sich nicht ergeben.«
    Nicht ergeben? Was sollte das denn heißen? »Ach?«, schnaubte ich. »Hör mal, es ist schon ein bisschen seltsam, dass du mir von deinen Eltern und deinen Pflegeltern und Fluvius Grindeaut und allen erzählst und dabei nicht einmal deine Schwester erwähnst. Ich meine –«
    Marian verdrehte die Augen. »Jetzt mach die Sache nicht größer, als sie ist. Ja, ich habe eine kleine Schwester. Und ja, ich habe sie bisher vergessen zu erwähnen. Na und? Das hier ist die Post, oder? Ich bin gleich wieder bei dir«, sagte er, ließ mich los und verschwand so schnell hinter den gläsernen Schwingtüren, dass mir nichts anderes übrig blieb, als auf dem Gehweg auf ihn zu warten. Hinterherlaufen würde ich ihm nämlich bestimmt nicht. Stattdessen beobachtete ich die vorbeifahrenden Autos und legte mir einen Schlachtplan zurecht.
    »Du weißt, dass ich nicht lockerlassen werde?«, sagte ich, kaum dass Marian wieder da war.
    Er nickte. »Trotzdem gibt es ein paar Dinge, über die ich im Moment nicht reden möchte.«
    »Geheimnisse«, sagte ich gedehnt. »Dinge, die ich nicht wissen soll. Da brauchst du dich nicht zu wundern, wenn mich jede Kleinigkeit misstrauisch macht. Ich dachte, du liebst mich.«
    »Das tue ich. Und gerade deshalb möchte ich heute einfach den Tag mir dir genießen, okay?«
    Ich hob eine Augenbraue.
    Eine gute halbe Stunde später stiegen wir aus der Straßenbahn Linie 301 am Gelsenkirchener Zoo, denn hier im Ruhrgebiet lagen die Städte so nahe beieinander wie nirgendwo sonst. Doch das war es nicht, was mich erstaunte. Nein, es war die Selbstverständlichkeit, mit der Marian und ich Hand in Hand zum Eingang schlenderten und uns zwei Tickets kauften. Gerade so, als wären wir schon eine Ewigkeit zusammen. Als hätte unser Kuss etwas in mir zum Einrasten gebracht. Wie ein ausgekugeltes Gelenk, von dessen Existenz ich bisher nicht einmal gewusst hatte, das nun wieder zurück in seine ursprüngliche Position gerutscht war.
    Tiere waren ja nie mein Ding gewesen, weder fürs Reiten noch für Hundewelpen hatte ich mich je erwärmen können. Doch irgendwie freute ich mich auf unseren Ausflug. Was zählte, war Marians große Hand, die meine warm und schützend umschloss, und das Gefühl, ihn bei mir zu haben.
    Vereinzelt kämpften sich Sonnenstrahlen durch die Wolken und malten Muster auf unsere Gesichter, als wir zwischen Grundschulklassen und Familien mit kleinen Kindern an den Gehegen von afrikanischen Steppenbewohnern und Gorillas vorbeischlenderten. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Zoo gewesen war, ich musste noch sehr klein gewesen sein. Jedenfalls meinte ich noch zu wissen, dass ich mich damals ganz schrecklich vor den Elefanten gefürchtet und an die Hand meiner Mutter geklammert hatte. Auch heute verursachte der Anblick der grauen Dickhäuter ein mulmiges Gefühl in meiner Magengegend, vor allem, weil ich ein dunkles Flackern auf einem der Rüssel bemerkte.
    Kurz darauf, wir standen vor einer Glaswand, hinter der Schimpansen in Bäumen und Tauen herumkletterten, stieß ich einen spitzen Schrei aus, als sich der Schatten eines dösenden Affenmännchens von dessen Körper löste und in Form eines unfassbar kugelförmigen Wesens mit borstigem Fell über den Sand des Geheges kroch.
    »Ganz ruhig.« Ich spürte, wie Marian von hinten die Arme um mich legte. »Sie alle haben eine Seele, Flora«, murmelte er. »Etwas Dunkles, das in ihnen lauert und zu ihrer Natur gehört, wie ihr Fell.«
    »Dann ist auch diese Welt im Grunde ganz anders, als ich bisher dachte.« Ich fröstelte, denn was ich schon bei den Sirenen geahnt hatte, wurde mir nun in seinen ganzen Ausmaßen bewusst. Es gab also nicht nur eine Schattenwelt und Wandernde und all das, nein, ich hatte auch meine eigene Welt nie wirklich wahrgenommen! Mir wurde schwindelig, weil mein Verstand sich weigerte, das zu erfassen.
    »Ja. Und willst du auch wissen, wie anders?«, flüsterte Marian direkt neben meinem Ohr. Sein Atem streifte meinen Nacken und eine Gänsehaut kroch über meine Schultern. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wissen wollte, doch mein Kopf war bereits dabei, mechanisch zu

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