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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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vor allem deshalb, weil sie nicht schwarz-weiß waren. Es handelte sich anscheinend um rötliche und bläuliche Lichtreflexe, die durch die unterirdischen Gänge der Bergwerke huschten und an Polarlichter erinnerten. Was genau an ihnen so schrecklich sein sollte, verstand ich nicht. Ebenso wenig wie die verkorksten Theorien, die von den Abgeordneten geäußert wurden.
    Vielleicht lag es daran, dass ich erst seit Kurzem in der Schattenwelt lebte. Mit Sicherheit hatte es aber auch mit meinem … Zustand zu tun. Der Kampf mit den Sirenen steckte mir noch immer in den Knochen, ebenso wie mein unfreiwilliger Ritt auf dem Schattenbären.
    Und Marian natürlich.
    Ich schaffte es nicht mehr, den Blick von ihm zu wenden. Den ganzen Nachmittag lang saßen wir nebeneinander am Kopfende des Sitzungssaals, und während die letzten Punkte der Tagesordnung an uns vorbeirauschten, flochten sich Marians Finger unter dem Tisch in meine. Einen Augenblick lang ließ ich ihn gewähren, denn es fühlte sich richtig an. Es fühlte sich gut an. Tröstlich.
    Dennoch zog ich meine Hand zurück. Nein, ich hatte ihm die Sache mit dem Bären noch nicht verziehen. Und ich war verwirrt. Marians Nähe hatte mich überrumpelt und alles in mir schrie nach mehr davon, schrie danach, mit ihm allein zu sein. Erst jetzt wurde mir bewusst, was geschehen war. Wir hatten uns geküsst! Wir waren Arm in Arm durch den Zoo gelaufen! Mein Herz flatterte wie ein nervöser Kanarienvogel in meiner Brust. Das alles kam mir plötzlich so unwirklich vor, als hätte es gar nichts mit mir und meinem Leben zu tun. Genauso wie es meinem Verstand noch immer schwerfiel, die Schattenwelt zu begreifen.
    Noch spürte ich Marians Lippen auf meinen, seine schwieligen Hände auf meiner Haut. Der Kuss war wunderschön gewesen. Aber es würde keine Wiederholung geben, entschied ich und rückte meinen Stuhl ein Stück von ihm weg. Das Wichtigste war, dass ich jetzt erst einmal einen klaren Kopf bekam. Schließlich war da noch der Weiße Löwe. Und das Wissen, dass Marian mir etwas verheimlichte.
     
    Den Abend verbrachte ich in meinem Zimmer. Ich brütete über meinen Hausaufgaben, während mein Vater und Christabel mit einigen Mitgliedern des Regierungsstabes noch etwas trinken gegangen waren. Ein paarmal hörte ich Marians Schritte vor meiner Tür, einmal ein vorsichtiges Klopfen. Doch ich reagierte nicht. Stur starrte ich auf das Shakespeare-Sonett in meinem Englischbuch. Ohne die Worte tatsächlich zu lesen, wartete ich darauf, dass mich die Müdigkeit übermannte. Die Sirenen mochten sich als Sackgasse entpuppt haben, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich aufgab.
    Erleichtert sank ich schließlich in die Dunkelheit des Schlafs. Mein Haar flatterte im eisigen Wind, als ich auf Eisenheim zustürzte. Schon erkannte ich das Dach des Palastes und die Kieswege des Parks, die sich wie silbrige Schlangen durch Buschwerk und Finsternis wanden.
    Dann blinzelte ich.
    Das Nächste, was ich sah, war der ausgefranste Stoff meines Himmelbetts. Wie alle Räume des Schattenpalastes war auch dieses Zimmer lediglich ein schwacher Abglanz seiner früheren Pracht. John, der knochige Butler, den ich insgeheim nur den Weberknecht nannte, hatte es mir zum Aufwachen und Einschlafen zugewiesen und dabei, wie ich fand, ziemlich schadenfroh ausgesehen. So als wäre er erleichtert, nicht selbst in dieser gruseligen Bruchbude leben zu müssen. Und irgendwie konnte ich das sogar ein bisschen verstehen (nicht das mit der Schadenfreude, nur, dass er erleichtert war).
    Es war nämlich wirklich kein besonders angenehmes Gefühl, wenn man die Augen aufschlug und in einem Bett aus mottenzerfressener Spitze lag. In einem Zimmer, von dessen Wänden sich die Tapete schälte wie alte Haut, und unter einem Kronleuchter, der so von Spinnweben verhüllt war, dass man ihn kaum noch als solchen erkennen konnte. Das Licht der Gasflammen in ihren Gläsern konnte man nur noch erahnen, es tauchte den Raum in ein diffuses Glimmen und warf Schatten in Formen, die einem eine Gänsehaut über die Arme kriechen ließen. Vor allem, weil alles schwarz-weiß war.
    Wie ich so dalag, kam ich mir vor wie eine tote Braut, die von ihrem wahnsinnigen Verlobten in einem Horrorkabinett aufgebahrt worden war. Diese gammlige Spitze, der zu allem Übel ein äußerst muffiger Geruch entstieg, umhüllte mich wie ein Kokon. Igitt! Das war jetzt schon das dritte Mal! Mir war noch nicht ganz klar, warum, aber anscheinend schaffte ich es

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